Gedenken in der Schweiz: Elf Blütenblätter für die Erinnerung an den 11. Juli

Nr. 28 –

Die bosnische Diaspora gedenkt der Opfer von Kriegsverbrechen und Genozid der neunziger Jahre. Wie verhält sich die Schweiz dazu?

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Der Sechseläutenplatz glüht an diesem Tag Ende Juni, Menschen mit Glace in der Hand schlendern Richtung Zürichsee. Andere biegen in Richtung Bernhard-Theater ab. Sie tragen Broschen in Form einer weissen Blume – elf Blütenblätter für den 11. Juli 1995, für die mindestens 8372 von serbischen Nationalisten  ermordeten Bosniakinnen, die meisten Knaben und Männer. Insgesamt wurden im Angriffskrieg auf Bosnien-Herzegowina über 104 000 Menschen getötet.

«Damit sich der Genozid und die Verbrechen nicht wiederholen mögen», sagen Adnan Jakupović und Mitorganisatorin Sabina Kalamujić zu Beginn des Abends.

«Što te nema» heisst ein bosnisches Volkslied, das bald von der Bühne ertönen wird: «Warum bist du nicht hier?» Seit Jahren versammeln sich in der Schweiz Menschen bosnischer Herkunft zu dieser Zeit, um gemeinsam zu trauern und Kraft zu schöpfen. Dieses Jahr gibt es in Zürich zwei besonders vielstimmige Anlässe: Zu «30 Jahren Srebrenica Genozid, 30 Jahren Friedensschluss in Bosnien-Herzegowina» lud die Organisation Matica Bosne i Hercegovine in Zusammenarbeit mit Glas za Bosnu (Stimme für Bosnien) und Mreža mladih Švicarska (Jugendnetzwerk Schweiz) ins Bernhard-Theater ein. Unter den Gästen sind viele Junge – auch sie, die nach 1995 Geborenen, tragen die Geschichte ihrer Familien und der Überlebenden mit.

Elvedin Salihović ist zwölf Jahre alt, als der Krieg sein Dorf nahe Srebrenica erfasst. Häuser brennen, Schüsse fallen, Nachbar:innen werden getötet. Seine Familie flieht mehrmals, um schliesslich die vermeintlich sichere Uno-Schutzzone zu erreichen. Salihović überlebt, weil ihn seine ältere Schwester als Mädchen verkleidete. Ein Bus bringt die beiden in Sicherheit, seine Mutter wartet auf ihre anderen Söhne. Heute lebt die Familie in der Schweiz. «Wir warten noch immer.»

Kollektive Erinnerung als Widerstand

Während Jakupović die Geschichte von Elvedin Salihović vorliest, sitzt dieser im Publikum. Viele Überlebende sind bis heute traumatisiert. Einige sprechen selbst in ihren Familien nur fragmentarisch über das Erlebte, andere gar nicht.

Dilyara Müller-Suleymanova forscht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften dazu, wie sich Kriegs- und Fluchtgeschichten auf junge bosnischstämmige Menschen in der Schweiz auswirken. Sie beobachtet: Die jungen Generationen interessieren sich mit zunehmendem Alter dafür, was damals geschah, informieren sich in Büchern, Medien, schreiben Matura- und Semesterarbeiten zum Thema. Die Bedeutung des Krieges sei für die zweite und die dritte Generation eine andere als für die Eltern, sagt Müller-Suleymanova. Dadurch erhalte die Geschichte «eine neue Resonanz und Relevanz».

Das zeigt sich wenige Tage zuvor auch im Schiffbau des Zürcher Schauspielhauses an «Echo 92 – bosnisches Erinnern und Gedenken», einer szenischen Lesung mit Musik, geleitet vom Zürcher Institut für interreligiösen Dialog und in Zusammenarbeit mit dem Künstler Fabian Saul und dem Magazin «Zwischentext».

Auf der Bühne lesen vier junge Frauen Texte vor, die sie in einem Workshop entwickelt haben. «Wir wurden geprägt, kollektiv traumatisiert, zweifach sozialisiert, einfach für uns einstehen müssen wir täglich. Wir tragen Wunden, von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie haben», liest Merjema Adilović. Viele der Anwesenden weinen. Auch die Lesenden selbst – und halten sich gegenseitig an den Händen, um alles Geschriebene zu Ende vortragen zu können.

Danach liest die Schweizer Autorin Mina Hava, deren Eltern aus Bosnien stammen, aus ihrem Roman «Für Seka», in dem die Protagonistin bei der Suche nach Spuren ihrer Familie auf das Konzentrationslager Omarska stösst. Die deutsch-bosnische Journalistin und Aktivistin Melina Borčak, die als Kind aus Bosnien flüchtete, setzt mit ihrem Text die serbisch-nationalistische genozidale Gewalt der neunziger Jahre über Srebrenica hinaus in einen historischen und politisch aktuellen Kontext.

Auch im Bernhard-Theater teilen vier junge Menschen ihre Gedanken auf der Bühne. Nicht nur der Schmerz der Hinterbliebenen sei präsent, sondern auch deren Mut und Empathie, sagen sie. Die Last der Erinnerung sollte nicht allein auf den Schultern der Überlebenden liegen. «Unsere Generation hat eine zeitliche, geografische und emotionale Distanz zum Genozid. Das heisst auch, dass wir mehr Kraft haben, darüber zu sprechen.» Sie sehen eine lebendige Erinnerungskultur als politischen Widerstand gegen faschistische und nationalistische Kräfte – und dabei auch die Verantwortung, sich Wissen anzueignen und weiterzugeben. Aufgrund der eigenen Geschichte sei man sensibilisiert dafür, gefährliche Ideologien und Handlungsmuster zu erkennen. «Versteckt eure Identität und euer Wissen nicht», ermutigen sie die Anwesenden.

Im Bernhard-Theater wie im Schiffbau wird aus dem Lied «Srebrenički inferno» gesungen, das regelmässig an Gedenkanlässen ertönt: «Schwester, Bruder, ich träume noch von euch. […] Ich suche euch […]. Überall, wohin ich gehe, sehe ich euch.» Worte, die nicht nur die mehrheitlich anwesenden Bosniak:innen bewegen. Im Schiffbau umarmen sich nach der Lesung Menschen, die vieles trennen könnte – und die doch in der Gegenwart, auf unterschiedlichen Ebenen, im Schmerz verbunden sind.

Gegen das Leugnen, für eine Zukunft

Und die Schweiz? Schliesst sie die Menschen, die in diesen Tagen gemeinsam trauern und gedenken, in ihre Gedanken und ihre Geschichte ein? Um ihre Erfahrungen stärker ins Schweizer Bewusstsein zu rücken, lädt die Diaspora gezielt auch nichtbosnische Redner:innen ein.

Im Bernhard-Theater spricht der Zürcher Stadtrat Raphael Golta. Die Geflüchteten aus Bosnien hätten seine Stadt geprägt. Ausgehend von ihrer Ankunft in den Neunzigern, habe man die bis heute wirkende Flüchtlingspolitik ausgestaltet. Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien hätten auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Schweiz und der Stadt Zürich mitgeprägt. «Dafür gebührt ihnen unsere Anerkennung und unser Dank.»

Balthasar Glättli, Nationalrat der Grünen, sitzt im Bernhard-Theater im Publikum. Er hat sich in den neunziger Jahren gegen den Krieg in Bosnien-Herzegowina engagiert. Die damaligen Kriege auf dem Balkan seien im kollektiven Gedächtnis der Schweiz zu wenig präsent, findet er, «als wäre das kein Teil Europas und unserer eigenen Geschichte».

SP-Nationalrat Fabian Molina spricht von der kollektiven Verantwortung dafür, zu erinnern sowie Versöhnungsarbeit und Prävention zu leisten. So habe es die Uno-Generalversammlung dreissig Jahre nach dem Genozid festgehalten. Die Schweiz solle sich dieser Verantwortung stellen und den 11. Juli offiziell als Gedenktag für Srebrenica anerkennen.

Erinnern und gleichzeitig nach vorne blicken, nach einer gemeinsamen Zukunft suchen, Brücken bauen, darüber ist man sich im Bernhard-Theater einig: Das geht nur, wenn das Geschehene aufgearbeitet und anerkannt wird.

Am Ende erklingt «Vjeruj u ljubav» (Glaub’ an die Liebe), ein bekanntes Lied aus den Zeiten Jugoslawiens. Einige Frauen singen leise mit, Männer nicken mit den Köpfen. Einige werden auch dieses Jahr wieder zur Gedenkfeier nach Potočari reisen, einige auf dem «Marš Mira», dem Friedensmarsch, ihren Fluchtweg aus Srebrenica Richtung Tuzla zurückgehen. Manche werden weiter hoffen, dass man in der Erde Spuren ihrer Angehörigen findet. Die weisse Blume tragen sie an diesen Tagen angesteckt. In Wahrheit aber legen sie sie nie ab. Što te nema.