Wahlen in Deutschland: Wachsen zwischen Betonblöcken
Nirgends in Deutschland ist die soziale Trennung so schroff wie in Schwerin, der Hauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns. Zu Besuch im ärmsten Stadtteil, wo nicht nur die AfD, sondern auch ein kleiner Gemeinschaftsgarten gedeiht.

Lenin schaut entschlossen in die Zukunft, dreieinhalb stolze sozialistische Meter hoch. Eingeweiht im Jahr 1985, ist die Statue eine der wenigen, die das Ende der DDR vor 35 Jahren überlebt haben. «Dekret über den Boden» steht auf dem breiten Sockel zu Lenins Füssen. Das Bodendekret war eines der ersten, die in Russland nach der Oktoberrevolution 1917 erlassen wurden; es erklärte das Land zum Allgemeingut derer, die darauf arbeiteten – zumindest in der Theorie. Und so anachronistisch der Lenin mit seinem Dekret heute daherkommt, so passend steht er hier bis heute «uffm Dreesch», wie die Schweriner:innen die Gegend nennen: «Dreesch», das ist Mundart für Acker.
Vom einstigen Ackerland ist allerdings nichts geblieben. Grauer Beton beherrscht Norddeutschlands grösste Plattenbausiedlung. Einst war sie für 60 000 Bewohner:innen gebaut worden, nach einer Abwanderungswelle in den neunziger Jahren leben noch 25 000 Menschen hier. Das ist etwa ein Viertel der Bevölkerung Schwerins, der Landeshauptstadt des nordöstlichen Bundeslands Mecklenburg-Vorpommern. Seit Jahren belegt sie einen traurigen Spitzenplatz: Keine andere deutsche Stadt ist so stark nach sozialen Schichten sortiert wie diese, nirgendwo leben Arm und Reich eindeutiger voneinander getrennt. Die Gutverdiener:innen wohnen in der schicken Altstadt oder am Ufer des Pfaffenteichs oder im Villenviertel Neumühle. Und die Armen, die woanders die Miete nicht stemmen können: «uffm Dreesch».
Ein Ort für die Nachbarschaft
Zum Dreesch gehören insgesamt drei aneinandergereihte Quartiere: der Grosse Dreesch, Neu Zippendorf und – am weitesten von der Altstadt entfernt – Muesser Holz, der mit Abstand ärmste Teil Schwerins. 45 Prozent der Bewohner:innen beziehen Bürgergeld, jedes zweite Kind ist offiziell arm, der Anteil von Einwander:innen mit über dreissig Prozent dreimal so hoch wie im Durchschnitt der Stadt. Wie blicken Menschen in Muesser Holz auf den Bundestagswahlkampf, der zurzeit Deutschlands politische Agenda bestimmt?
Am ersten Februarwochenende steht Gerhard Mahl vor einer umzäunten Grünfläche – jahreszeitenbedingt blüht gerade nichts, aber man sieht, dass die Anlage liebevoll gepflegt wird. In einer kleinen Kirche schräg gegenüber findet der Neujahrsempfang des Nachbarschaftsgartens statt, mit sorgsam aufgetischtem Buffet, Gemüsesticks, Obst, Kuchen. Mahl – grauer Bürstenhaarschnitt, Kapuzenjacke – ist ehrenamtlich im Sprecher:innenrat des Gartenprojekts tätig: Wasserzufuhr klären, Absprachen beim Pflanzen und Pflegen, Feste organisieren. Angelegt wurde der Garten auf einer durch Abriss entstandenen Brache. Wegen des Leerstands werden auf dem Dreesch seit Anfang der nuller Jahre regelmässig Plattenbauten abgetragen – riesige Schuttberge im Viertel zeugen davon.
An diesem Samstag ist in deutschen Medien ein ganz anderer Abriss das dominierende Thema: Gerade haben Friedrich Merz und seine Union im Bundestag die «Brandmauer» zertrümmert, indem sie sich erstmals Mehrheiten mit Stimmen der extrem rechten AfD verschaffen liessen. «Das kennen wir hier schon», sagt der 69-jährige Mahl. Anfang des Jahres haben CDU und AfD in der Stadtvertretung gemeinsam durchgesetzt, dass Asylbewerber:innen und Bürgergeldempfänger:innen zur Arbeit verpflichtet werden sollen. Wird der Beschluss umgesetzt, wäre Schwerin die erste Stadt mit einer derartigen Praxis. «Ganz klar: Das ist Zwangsarbeit», sagt Mahl. «Total daneben.»
Frustration und Unverständnis
Gerhard Mahl ist aus gesundheitlichen Gründen zum Nachbarschaftsgarten gekommen. Nach drei Herzinfarkten empfahl ihm sein Arzt ausgedehnte Spaziergänge, dabei stiess er auf die Brache. Er liebt das Gärtnern, aber er glaubt auch an das gemeinschaftliche Projekt: «Wenn der Mensch einen Samen einpflanzt, wässert, pflegt und sieht, wie daraus etwas wächst, dann wächst er selbst auch.» Etwa dreissig Nachbar:innen sind heute in die kleine Kirche gekommen – darunter ukrainische Kriegsgeflüchtete, von denen viele in Muesser Holz leben, Rentner:innen, die schon seit DDR-Zeiten hier wohnen, und junge Männer, die zu Sozialstunden verurteilt wurden. Zusammen sitzen sie an der grossen Tafel, essen, trinken Kaffee und plaudern, eine kleine Horde Kinder flitzt fröhlich kreischend durch den Raum.
Den Wahlkampf nehmen hier viele als polarisiert und verhetzt wahr und als abgehoben, denn ihre eigentlichen Probleme – etwa steigende Mietnebenkosten, die vielen zu schaffen machen, oder die Inflation bei Lebensmitteln – sind kaum Thema. Ersehnte Lösungen wie ein Mietendeckel, höhere Löhne, ausreichend Jobs oder eine bessere Infrastruktur erst recht nicht. Nach ein paar Wochen «Wirtschaftswahlkampf», der sich vor allem darauf beschränkte, verbal auf Bürgergeldbezieher:innen einzudreschen und Erleichterungen für «die deutsche Wirtschaft» zu versprechen, geht es inzwischen fast nur noch um die Begrenzung der Zuwanderung.
«Bei uns gärtnern Syrer, Ukrainer und Deutsche zusammen. Man muss ja nicht gleich beste Freunde sein, es reicht, gemeinsam etwas zu schaffen», kommentiert Gerhard Mahl die migrationsfeindliche Wendung im Wahlkampf. «Ich wünschte, das würde es an vielen Orten geben, damit alle sehen: Es geht auch ohne diese Hetze, wonach die Ausländer an allem schuld seien.» Die Hetze wiederum ist das Lebenselixier der AfD, die im Stadtviertel durchaus eine Macht ist. Bei den Kommunalwahlen im Juni 2024 kam die Partei in einigen Wahlbezirken auf dem Dreesch auf über fünfzig Prozent. Bei den Bundestagswahlen am 23. Februar könnten auch Stimmen von hier dazu beitragen, dass sich die AfD auf Bundesebene von den etwa zehn Prozent im Jahr 2021 auf prognostizierte zwanzig Prozent verdoppelt.
Warum nur wählen so viele Menschen eine Partei, die in ihrem Programm gerade für Arme nichts zu bieten hat? «Ganz viel Frustration und Unverständnis», sagt Sebastian Hüller. «Die Leute sagen einem: Jetzt waren ja alle schon mal dran, was sollen wir dann noch wählen ausser AfD?» Hüller, 24 Jahre alt, lange Haare, lackierte Fingernägel, nippt beim Bäcker am Marienplatz an seinem Kamillentee. Zu Wahlkampfzeiten stehen die Parteien hier, in der Altstadt, mit ihren Ständen und Pavillons und werben um die Stimmen der shoppenden Schweriner:innen. Früher hiess der Platz Leninplatz, das verbindet ihn mit der Statue auf dem Dreesch. Viel mehr aber auch nicht.
Hüller ist Nachwuchspolitiker der Grünen und kandidiert als Direktkandidat in den Dörfern, die an Schwerin grenzen. Dass «alle schon mal dran waren», mag seltsam klingen, aber hier, in Mecklenburg-Vorpommern, stimmt es fast. Bis auf Grüne und AfD haben alle Parteien das Bundesland schon mitregiert. Derzeit ist es das letzte – neben dem Stadtstaat Bremen –, in dem sogar noch die Linkspartei Teil der Landesregierung ist.
Sebastian Hüller ist, das sagt er selbst, kein stereotypischer Grüner. Kein Abitur, dafür eine Ausbildung als Fachinformatiker. Er kommt vom Dorf und hat sich mit achtzehn Jahren sofort ein eigenes Auto gekauft. Auch das Vorurteil, wonach Grüne gerade Menschen in prekären Lebenslagen mit moralisch-abgehobener Besserwisserei begegneten, bestätigt er nicht.
Im Gegenteil: Wenige Tage nach dem Brandmauertheater in Berlin sagt Hüller ohne jede Abschätzigkeit: «Glauben Sie etwa, die Brandmauer juckt uffn Dreesch jemanden? Die Leute haben schlichtweg grössere Probleme als den Niedergang der Demokratie.» Als Grüne, sagt er, müssten sie es schaffen, diese Probleme glaubhaft zu adressieren.
Dafür wird allerdings ein langer Atem nötig sein. In Muesser Holz liegt Hüllers Partei bei zwei Prozent. Im letzten Sommer kam zu einer Bürger:innensprechstunde, die die Grünen im Kommunalwahlkampf anboten, nur eine einzige Person.

Das berichtet Thomas Littwin in seinem kleinen Büro, nur wenige Hundert Meter vom Nachbarschaftsgarten entfernt. Der 61-jährige Sozialarbeiter, grauer Bart, Wollpullover, freundliche Augen, ist für den Verbund für Soziale Projekte (VSP) tätig; die kleine Organisation unterstützt den Garten finanziell und betreibt ausserdem eine gemeinschaftliche Fahrradwerkstatt und ein Mitmachcafé, das täglich einen günstigen Mittagstisch für die Nachbar:innen anbietet. Der Chefkoch des Cafés kommt aus der Schweiz – und setzt auf internationale Küche. Manche Anwohner:innen blieben dem Café deshalb fern, vermutet Littwin; die «heilige Bratwurst», wie er sagt, würde ihnen wohl fehlen.
Littwin ist überzeugt, dass Begegnungsorte wie das Café, Wertschätzung für den Stadtteil – dazu gehören auch finanzielle Mittel – und ja, auch Genuss, die Nachbarschaft voranbringen könnten. «Wir wollen die Tristesse bekämpfen», sagt er. «Die Leute sollen dabei nicht nur bespasst werden, sondern übernehmen Verantwortung für ihren Lebensraum, das ist unsere Vision, neudeutsch heisst das ‹community organizing›.»
Sieg der Segregation
Was das erschwert? Zum Beispiel die Sache mit der Gemeinschaftsunterkunft. In Muesser Holz gibt es eine Unterkunft für Geflüchtete, die bislang einzige in Schwerin. Eine zweite sollte eigentlich im Villenviertel Neumühle entstehen, dessen Bewohner:innen prompt dagegen protestierten – auch dort steht die AfD bei knapp dreissig Prozent. Die Stadtvertretung knickte vor den Eigenheimbesitzer:innen ein. Nun kommt auch die zweite Gemeinschaftsunterkunft Schwerins nach Muesser Holz, in den ärmsten und infrastrukturell am stärksten abgehängten Teil der Stadt. Unter Sozialarbeiter:innen, die hier mit bescheidenen Mitteln und ohne grosse Unterstützung der Politik versuchen, die Folgen von deren Handeln abzumildern, sorgt das für Unverständnis und Unmut. Nicht gegenüber den Geflüchteten, die zusätzlich hierherziehen werden, sondern gegenüber der Segregation, die gesiegt hat – mal wieder.
Menschen wie Thomas Littwin oder Gerhard Mahl wollen sich damit nicht abfinden, dass die Lebensqualität im Kiez niedrig ist. Sie arbeiten dagegen an, mit eigener Kraft – auch im Wissen darum, dass die Bundestagswahlen in Muesser Holz kaum etwas zum Guten wenden werden. Auch beim Neujahrsempfang des Nachbarschaftsgartens ist Littwin dabei, er hält eine kurze Rede, später stehen er und Mahl im dunstigen Nachmittagslicht im Garten, der auf seine dritte Anbausaison wartet. Und weiter vorne steht der Dreescher Lenin weiterhin auf seinem Bodendekret; drei Abrissversuche hat er seit der Wende überstanden, und noch immer schaut er ganz entschlossen in eine ungewisse Zukunft.