Vormarsch der AfD: «Der Osten ist viel gespaltener als der Westen»

Nr. 9 –

Der Soziologe Steffen Mau erklärt das Wachstum der extremen Rechten vor allem in Ostdeutschland– und wirft einen Blick auf die anstehende Regierungsbildung.

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WOZ: Herr Mau, gibt es etwas am Wahlergebnis der deutschen Bundestagswahlen, das Sie überrascht hat?

Steffen Mau: Ja, zwei Dinge. Einerseits das enorm gute Abschneiden der Linken, die im Zerfall begriffen war und es nun auf fast neun Prozent geschafft hat. Und andererseits die mit 82,5 Prozent historisch hohe Wahlbeteiligung, an der man sieht: Die Leute sind politisiert.

WOZ: Betrachtet man die Wahlergebnisse auf einer Deutschlandkarte, sieht man genau, wo früher die DDR lag: Dort ist nahezu alles blau gefärbt, in der Farbe der AfD. 2021 hatte in Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg noch die SPD die Wahlkreise gewonnen. Wie erklärt sich diese Verfestigung der hegemonialen Stellung der extremen Rechten in Ostdeutschland?

Steffen Mau: Das ist die Fortschreibung eines schon früher angelegten Trends. Die AfD ist ja auch im Westen stärker geworden, aber die Relation zum Osten bleibt unverändert. Dort ist sie doppelt so stark und damit nun fast flächendeckend die Wahlsiegerin – auch in Grossstädten, wo das lange nicht so war, wie in Rostock oder Dresden. Das liegt einerseits daran, dass sie im Osten schon etablierter ist und sich von dieser Basis aus besser fortentwickeln kann: Sie verfügt über die Organisationsstrukturen, das Personal – und die kulturelle Hegemonie. Andererseits hat sich mit der Ampelregierung viel Frust angestaut – und im Osten gibt es weniger entwickelte Strukturen der demokratischen Parteien, die solche Unzufriedenheiten absorbieren und politisch einhegen könnten.

Soziologischer Seismologe

Steffen Mau (56) ist in der DDR aufgewachsen. Heute lehrt er als Professor für Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin. Sein Buch «Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft» war ein Bestseller. Zuletzt veröffentlichte er «Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt» und zusammen mit Thomas Lux und Linus Westheuser «Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft» (alle im Suhrkamp-Verlag erschienen).

WOZ: Gibt es auch sozioökonomische Gründe für die Stärke der AfD?

Steffen Mau: Tatsächlich unterscheidet sich die demografische Situation im Osten von der im Westen: Der Osten ist eine Schrumpfregion mit viel Auswanderung, gerade der jüngeren, gut ausgebildeten Menschen. Hinzu kommt, dass die AfD so etwas wie eine neue Arbeiterpartei geworden ist. Es wählen sie viele mit manuellen Berufen, geringer Qualifikation, kleinem Einkommen und wirtschaftlichen Sorgen, die sogenannten kleinen Leute – und Ostdeutschland ist ein Land der kleinen Leute.

WOZ: Das Programm der AfD würde aber den «kleinen Leuten» überhaupt nicht zugutekommen. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

Steffen Mau: Auch habituell würde man ja sagen: Spitzenkandidatin Alice Weidel – eine Betriebswirtschafterin mit Perlenkette, die ihren Wahlkreis in der Bodenseeregion hat, in der Schweiz lebt und radikal marktliberal denkt – ist jetzt nicht unbedingt die Person, die den Ostdeutschen mentalitätsmässig auf den ersten Blick nahesteht. Aber die AfD ist eine Projektionsfläche – für negative Gefühle wie Ressentiment, Zorn und Wut auf die Verhältnisse oder auch für Ungerechtigkeitsempfindungen, die sich angesammelt haben. Sie ist auch nach wie vor eine Protestpartei gegen die etablierten, demokratischen Parteien. Sie schafft es zudem, über einen engen Kern hinaus Menschen an sich zu binden, und normalisiert völkische und chauvinistische Haltungen sowie Rassismen.

WOZ: In einem Beitrag für den «Spiegel» haben Sie vor wenigen Tagen ausgehend von den USA, aber auch mit Blick auf AfD-Wähler:innen geschrieben, dass Veränderungserschöpfung und Disruptionslust keine Gegensätze seien, sondern zwei Seiten einer Medaille. Was meinen Sie damit?

Steffen Mau: Häufig kommen diejenigen, die die AfD wählen, aus Harmonie- oder Sicherheitsmilieus, sind also Menschen, die hohe Kontinuitätsbedürfnisse in ihren sozialen Lebenswelten verspüren. Sie stemmen sich gegen den Wandel, fühlen sich davon überrollt und ohnmächtig. Es ist daher erst einmal verwunderlich, dass gerade solche Menschen für politische Angebote wie die der AfD – oder in den USA für jene von Donald Trump – stimmen, die einen radikalen Bruch mit der bestehenden Ordnung und damit auch mit den Sicherheiten, die diese Ordnung mit sich bringt, herbeiführen wollen. Meine Vermutung ist, und das sehen wir auch in unseren Daten, dass aber gerade aus dem Gefühl der Verohnmächtigung eine Sehnsucht nach einem Befreiungsschlag erwachsen kann, mit dem sich gewissermassen alles über Bord werfen lässt.

WOZ: Ist der Aufstieg der AfD ein unaufhaltsamer Prozess? Was liesse sich ihr politisch entgegensetzen?

Steffen Mau: Um hier ein bisschen Zuversicht reinzubringen, kann man sagen, dass in Ostdeutschland immerhin sechzig Prozent nicht die AfD gewählt haben. Das heisst, der Osten ist in sich gespalten, viel gespaltener als der Westen. Darüber hinaus gibt es kein einfaches Mittel gegen die AfD. Auch eine ausufernde Sozialpolitik und forcierte Infrastrukturentwicklung würden den Trend nicht proportional wieder umkehren. Dass man die Leute mit Sozialpolitik einfach in die Demokratie wieder hineinkaufen könnte, ist eine naive Vorstellung. Aber es ist natürlich ein Faktor. Was zudem helfen könnte, wäre eine Umkehrung des demografischen Trends, wenn also Zuzug gelingt, Menschen auch zurückwandern, die häufig andere soziale Erfahrungen gemacht haben. Und das Dritte wäre, die Selbstwirksamkeit der Menschen vor Ort zu erhöhen, das können etwa Parteien tun. Man muss aber ehrlicherweise sagen, dass es vielfach bereits versucht wurde und gescheitert ist. Auch deshalb ist es naiv zu glauben, da liesse sich von heute auf morgen der Hebel umlegen.

WOZ: Ist Deutschland dann auf dem gleichen Weg wie andere europäische Staaten: Wird die AfD bald mitregieren?

Steffen Mau: Auf Landesebene in Ostdeutschland kann ich mir das schon vorstellen. Auf Bundesebene sind wir noch ein ganzes Stück davon entfernt. Die AfD ist zum jetzigen Zeitpunkt bei rund zwanzig Prozent plus x auf Bundesebene vorerst ausmobilisiert, das sage ich schon länger, und diese Wahl hat das auch bestätigt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt und auch im Hinblick auf die darunterliegenden gesellschaftspolitischen Orientierungen und Wertemuster, die wir als Soziolog:innen untersuchen, ist da kein unbegrenztes Steigerungspotenzial. Bis zu dreissig Prozent für die AfD auf Bundesebene wäre es noch ein weiter Weg. Ich kann allerdings nicht sagen, was 2029 ist. Die Entwicklung der AfD hängt auch von der Handlungsfähigkeit der anderen Parteien ab, und natürlich spielt auch die wirtschaftliche Entwicklung eine grosse Rolle. Gesellschaften, die sehr viel Angst vor Wohlstandsverlusten haben, neigen häufig zur Wahl extremer Parteien.

WOZ: Was der extremen Rechten zugutekam: Der Wahlkampf drehte sich fast ausschliesslich um Migration – obwohl es einen ganzen Haufen andere Themenfelder gibt, die dringend bearbeitet werden müssten. Wie lässt sich diese Besessenheit von dem Thema Migration verstehen?

Steffen Mau: Der AfD gelingt das Agendasetting sehr gut, also die Fähigkeit, bestimmte Themen in der Öffentlichkeit zu setzen und sie zu den zentralen Themen zu machen. Den anderen Parteien wiederum ist diese Fähigkeit ein bisschen verloren gegangen. Also hecheln sie Themen hinterher, die schon kursieren und zu denen sie sich dann verhalten müssen. So kommt es zu solchen Übersteigerungen.

WOZ: Was denken Sie, wie nun die Regierungsbildung verlaufen wird? Wirft es einen Schatten auf die Koalitionsverhandlungen, dass die Union Ende Januar gemeinsam mit der AfD im Bundestag für Asylverschärfungen gestimmt hatte?

Steffen Mau: Nein, das denke ich nicht. Die SPD ist prinzipiell bereit, in die Regierung mit Merz zu gehen. Zentral wird unmittelbar der Streit um den weiteren Umgang mit der Schuldenbremse sein. Die Frage steht bereits im Raum, ob noch der alte Bundestag schnell die Schuldenbremse für die Freisetzung von Ukrainehilfen reformieren sollte. Weil sie im Grundgesetz verankert ist, braucht eine Lockerung eine Zweidrittelmehrheit. Und im neuen Bundestag gibt es diese nur mit den Stimmen der Linken. Die könnte also den Preis hochtreiben – etwa indem sie für die Zustimmung zu höheren Militärausgaben auch ein Sondervermögen Sozialpolitik fordert.

Apropos Sozialausbau: In Ihrem Buch «Triggerpunkte» beschreiben Sie die Klassenpolitik als «Oben-unten»-Arena der politischen Auseinandersetzung. Im Wahlkampf wurde sie kaum thematisiert. Wird sich das in der kommenden Legislatur ändern?

Steffen Mau: Das ist schwer zu sagen, weil sich Union und SPD bei dieser Frage ein Stück weit gegenseitig in Schach halten und gewissermassen neutralisieren. Es könnte also sein, dass es in keine Richtung wirklich Bewegung gibt. In jedem Fall wird die Frage des weiteren Umgangs mit der Schuldenbremse das A und O für jegliche Investitionen und wirtschaftliche Impulse sein.

WOZ: Könnte das überraschend starke Abschneiden der Linkspartei, die als einzige Partei wirklich mit sozialen Anliegen Wahlkampf gemacht hat, einen Einfluss auf die Auseinandersetzung im Feld der Klassenpolitik haben?

Steffen Mau: Die Frage ist, ob es der Linken gelingen kann, dieses Feld zu repolitisieren. Wenn ja, dürfte es die SPD mit der Angst zu tun bekommen, dass ihr die Themen abgegraben werden. Sie könnte dann präventiv stärker auf Massnahmen wie einen Mietendeckel setzen, um der Linken das Feld nicht zu überlassen. Das wäre gewissermassen symmetrisch zu den Entwicklungen in der Migrationspolitik und dem, was der AfD da gelungen ist: Sobald ein Feld politisiert wird und der Eindruck entsteht, dass ein Thema Zulauf und öffentliches Interesse erhält, können die anderen Parteien unter Handlungsdruck gesetzt werden.