Literatur: Care-Arbeit in der Apokalypse

Stück für Stück frisst das «Seemeer» die Stadt. Blumen und Schlingpflanzen überziehen Strassen und Häuser und verdecken die fette, aufgeblähte Sonne, deren Licht den Boden bald nicht mehr erreicht. Jeden Tag fliegen Menschen auf den Planeten Belgador, von dem nie jemand zurückkehrt, von dem man aber annimmt, dass es dort paradiesisch sein muss. Nur Simon will davon nichts wissen. Er ist fest entschlossen zu bleiben – selbst dann noch, als es zum Sauerkraut keinen Fisch mehr gibt, weil auch der Fischer nach Belgador verschwunden ist.
Simon ist Lampenanzünder, darauf hält er viel. Pflichtbewusst geht er seiner Arbeit nach, bis das Seemeer ein stummes Kind ausspuckt und ihn vor neue Schwierigkeiten stellt. Wie soll das gehen, arbeiten und sich gleichzeitig um einen anderen Menschen kümmern? Bietet diese Welt, in der alles aus den Fugen gerät, eine Zukunft für den Kleinen? Oder bleibt nun doch nichts anderes als die Flucht nach Belgador? Und was isst so ein Kind überhaupt – Sauerkraut?
Vergnüglicher als in Marie-Jeanne Urechs Endzeitparabel «X wie Dictionnaire» kann sich Apokalypse kaum lesen. Das ist auch der Übersetzung von Lis Künzli zu verdanken, die vergangenes Jahr mit dem renommierten Prix lémanique de la traduction ausgezeichnet wurde. Sorgfältig hat sie Wortspielchen, Neologismen (wie «Seemeer») aus dem Französischen ins Deutsche übertragen, hat feine Reime eingestreut. Da ist etwa die Eierfrau, die an Simons Tür klopft, «leicht verlegen der gelegten Eier wegen». Es ist kaum mehr jemand da, der sie essen könnte. Sie schenkt Simon den ganzen Korb, ein paar Hühner obendrauf, und besteigt die Raumfähre nach Belgador.
Unerschütterlich bewegt sich Simon durch ein loses Geflecht von Beobachtungen und Anekdötchen, während sich sein Dilemma zuspitzt: In der Dunkelheit unter dem Pflanzengewucher scheint ihm seine Arbeit wichtiger denn je. Inzwischen ist ihm aber auch das Kind zur lieben Pflicht geworden. Bald wird die letzte Fähre abheben – und Simon muss sich entscheiden.