Frankreich: Unwählbar war sie schon immer

Nr. 14 –

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Wenn in den letzten Jahren in französischen Medien von Marine Le Pen die Rede war, dann oft mit dem Zusatz, sie stehe «vor den Toren des Élysée-Palasts»: den Toren der Macht. So, als schliche die 56-Jährige tagein, tagaus um den Amtssitz des Präsidenten herum, um die Machtübernahme vorzubereiten.

In der Tat: Schon 2012, dann 2017 und zuletzt 2022 bewarb sie sich um das Präsident:innenamt. Nach jeder Niederlage lernte sie aus ihren Fehlern, wurde stärker, und ihr Abstand zum Sieger schrumpfte. Viele Beobachter:innen waren sich einig: Beim nächsten Mal macht sies! 2027 sollte ihr Jahr werden.

Und jetzt? Halt auf freier Strecke! Im Prozess über die Veruntreuung von EU-Geldern ist das Urteil gefallen: Le Pen hat nicht nur eine Geldstrafe und vier Jahre Haft kassiert, von denen zwei Jahre als Hausarrest und zwei Jahre auf Bewährung verhängt wurden. Viel entscheidender ist der sofortige Entzug des passiven Wahlrechts, der die Tore des Élysée vor ihr zuschlägt. Le Pen, la fin?

Als Marine Le Pen 2011 den Vorsitz des Front National übernahm und ihn zum heutigen Rassemblement National (RN) umformte, verordnete sie der Partei eine beispiellose Kur der «Entteufelung». Unter ihr wurde der RN salonfähiger. Die braunen Flecken auf dem glatt polierten Antlitz der Partei schienen fast verblasst, zuletzt dank des schicken Jordan Bardella, des 29-jährigen Parteivorsitzenden. Der RN holte mit ihm Wahlsiege, zuletzt fehlte nicht viel zur Regierungsbildung.

Jetzt stürzt Marine Le Pen ausgerechnet über ein Korruptionssystem, das ihr Vater erdacht und etabliert hatte. Ein System, mit dem Marine Le Pen und 24 weitere Angeklagte mithilfe von Scheinbeschäftigungen 4,5 Millionen Euro aus Brüsseler Kassen in die eigene Partei umgeleitet haben. Dabei war es Marine Le Pen, die jahrelang als Gegenentwurf zu den korrupten Eliten die Fahne der Unfehlbarkeit hochhielt. 2004 sagte sie in einem legendären Fernsehinterview: «Alle haben in die Staatskasse gegriffen, alle, ausser der Front National. Und das sollen wir normal finden? Die Franzosen haben es satt, dass ihre gewählten Vertreter Gelder veruntreuen.»

Man kann in diesem Urteil die letzte Stufe der Normalisierung dieser immer so betont andersartigen Partei erkennen, ihre definitive Ankunft in den Niederungen des Politikbetriebs, wo Korruptionsskandale tatsächlich zum Alltag gehören. Die Liste prominenter Straffälliger aus den Reihen der Politik ist lang. Gerade erst wurde Expräsident Nicolas Sarkozy wegen Bestechung zum Fussfesseltragen verurteilt. Das Urteil gegen Marine Le Pen ist jedoch ungewöhnlich, weil es sich eben unmittelbar auf die politische Gegenwart und die nahe Zukunft auswirkt: auf die Wahlen 2027. Zwar wird sie dagegen in Berufung gehen. Das passive Wahlrecht bleibt ihr aber voraussichtlich bis zum Abschluss des Berufungsprozesses verwehrt. Ob dieser vor den Wahlen abgeschlossen wird, ist noch unklar.

Nun zeichnet sich ab, dass Le Pen auf die Trump-Karte setzen will. «Welche Legitimität hätte ein neuer Präsident, wenn ich nach der Wahl freigesprochen werden sollte? Welche?», fragte sie aufgebracht. «Es ist eine politische Entscheidung. Die Richterin will nicht, dass ich Präsidentin werde.» Es klang wie der Beginn der schon vertraut klingenden Erzählung von der gestohlenen Wahl. Unterstützung bekommt sie von Rechtspopulisten und Autokraten weltweit, von Orbán und Wilders, über Musk und Trump bis hin zu Salvini und dem Kreml.

Le Pen hatte schon zu Beginn über das Verfahren gesagt: «Das ist mein politischer Tod.» Angesichts ihrer politischen Karriere dürfte es nicht wundern, dass sie eher bereit ist, den Märtyrerinnentod zu sterben, als ihre Kisten zu packen. Vielleicht hätte ein milderes Urteil den Sturm der Empörung verhindert, der gerade aufkommt. Andererseits hätte sich die Justiz auch bei einem milderen Strafmass von allen Seiten Vorwürfe gefallen lassen müssen.

Jetzt startet der RN eine grosse landesweite Kampagne mit Petitionen und Demonstrationen. Das Motto: «Retten wir die Demokratie – unterstützen wir Marine!» Man will auf die Strasse gehen. Irgendwo dort muss es doch zu finden sein, ein offenes Tor zum Élysée-Palast.