Film: Das wuchernde Begehren

Nr. 16 –

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Filmstill aus «Miséricorde»: der Dorfpfarrer redet mit einem Mann im Wald
«Miséricorde». Regie und Drehbuch: Alain Guiraudie. Frankreich 2024. Jetzt im Kino.

«Unterschätzen Sie bloss nicht die Kraft des Begehrens», lautet einer der hilfreichen Ratschläge des Dorfpfarrers in «Miséricorde». Er gibt ihn einem Polizisten auf einer Waldlichtung, während neben ihm der Mörder nervös zu einer Stelle blickt, wo – untypisch für die Jahreszeit – die Morcheln gesprossen sind.

Fast könnte man meinen, man befinde sich in einem durchschnittlichen Landkrimi. Das südfranzösische Dorf Saint-Martial wirkt wie aus der Zeit gefallen, das Wetter ist trüb, sorgt aber nach dem Regen immerhin für verlässliche Steinpilzernten. Da ist der heimgekehrte Bäcker, hier für die Beerdigung seines ehemaligen Lehrmeisters, zu dem er ein enges Verhältnis hatte. Da sind die traurige Witwe und ihr eifersüchtiger, jähzorniger Sohn, ein genügsamer Bauer, ein verständnisvoller Polizist und der allgegenwärtige Pfarrer. Weil er die besten Pilzstellen kennt, ist sein Sammelkorb in der Regel gut gefüllt.

Doch da sind auch die verführerischen Bilder von Kamerafrau Claire Mathon voller Texturen und Stimmungen des Dazwischen: Morgen- und Abenddämmerung, Momente unmittelbar vor und nach dem Regen, der Abstand zwischen zwei Körpern, die nicht wissen, ob sie kämpfend oder liebend übereinander herfallen sollen. Und da ist die Tatsache, dass in den Filmen von Alain Guiraudie alles vom Begehren bestimmt ist. Ein Begehren, das wie Pilze in alle Richtungen wuchert, für das weder Geschlecht noch Alter noch konventionelle Vorstellungen von Attraktivität eine Rolle spielen. Anders aber als in «L’inconnu du lac» (2013) oder «Rester vertical» (2016) bleibt hier das Begehren durchweg unerfüllt – wobei ungenutzte Erektionen, in einer Art Umkehrbild der verräterischen Morcheln, immerhin als Alibi fungieren können.

Glaube, Liebe, Hoffnung? In Guiraudies phantasmagorischem Kindheitsdorf treten diese drei als Bestimmungsfaktoren der Realität einen Schritt zurück. Und lassen so Begehren und Tod – die ewig Verdrängten – wie ein Myzel im Waldboden ungehindert zur Entfaltung kommen.