«Revolution der Frauen»: Die Macht der Küche
Politisch gibt es viel zu lernen von feministischen Bewegungen in Lateinamerika, schreibt Sophia Boddenberg in ihrem neuen Buch – etwa aus Indigenem Wissen. Ein Vorabdruck.
Ich habe lange gedacht, es sei ein wichtiges Anliegen des Feminismus, Frauen aus der Küche zu befreien. Schliesslich ist es eine Errungenschaft, nicht mehr am Herd stehen zu müssen. Bis in die 1970er Jahre durften Frauen in Deutschland, Österreich und der Schweiz nur mit Erlaubnis des Ehemanns ein eigenes Bankkonto eröffnen und einer Erwerbsarbeit nachgehen. Erst 1976 verabschiedete der Deutsche Bundestag eine Reform des Ehe- und Familienrechts, die das Leitmodell der sogenannten Hausfrauenehe durch das partnerschaftliche Prinzip ersetzte. Davor durften Ehefrauen nur berufstätig sein, wenn dies mit den Interessen ihres Mannes und der Familie vereinbar war. Viele Frauen waren also bis vor gar nicht allzu langer Zeit dazu gezwungen, sich ausschliesslich dem Haushalt und der Mutterschaft zu widmen. Die Küche – so dachte ich lange – ist für Frauen ein Ort der Unterdrückung.
Viele Indigene Frauen in Lateinamerika sehen das anders. Um den lateinamerikanischen Feminismus zu verstehen, ist es unerlässlich, sich mit der Lebensrealität Indigener Frauen auseinanderzusetzen. Als ich beginne, mich in feministischen Kollektiven in Chile zu engagieren, höre ich zum ersten Mal den Vorwurf, weisse Feministinnen würden die spezifischen Gewalterfahrungen Indigener und Schwarzer Frauen unsichtbar machen. Das bringt mich zum Nachdenken. Ich will keine weisse Feministin sein, die andere Frauen diskriminiert. Also beschliesse ich, mit Indigenen Frauen das Gespräch zu suchen, um ihre Sicht der Dinge zu erfahren.
Im Süden Chiles besuche ich Susana Huenul, sie ist Mapuche und lebt in Tirúa, einem kleinen Dorf an der Pazifikküste. Die Mapuche sind das grösste Indigene Volk Chiles und machen etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Huenul hat ihre langen schwarzen Haare zu Zöpfen geflochten und wirft mir zunächst einen misstrauischen Blick zu. Als ich ihr sage, dass ich gerne mit ihr über Feminismus sprechen würde, antwortet sie sofort: «Wir sind es so leid, dass weisse Frauen uns aus der Küche befreien wollen.» Ich erkläre, dass ich nicht vorhabe, irgendjemanden zu befreien, sondern gerne von ihr lernen möchte.
Saatgut und Wissen austauschen
In ihrer Küche knackt und knistert der Ofen, der «fogón», der Geruch nach verbranntem Holz vermischt sich mit dem von frischen Kräutern und Frittierfett, das in einer eisernen Pfanne vor sich hin blubbert. Draussen peitscht ein kalter Wind, hier in der Küche ist es warm und gemütlich. Huenul arbeitet in Tirúa mit anderen Mapuche-Frauen für den Erhalt des Naturwalds. Sie treffen sich regelmässig, um Saatgut auszutauschen. Das traditionelle Saatgut ist in Gefahr, weil sich dort, wo die Mapuche leben, die Forstindustrie ausgebreitet hat. Fast drei Millionen Hektaren sind in Chile mit Kiefern und Eukalyptusbäumen bepflanzt – keine einheimischen Pflanzen, aber sie sind lukrativ für die Holzindustrie, weil sie besonders schnell wachsen. Für die Plantagen mussten Naturwälder und artenreiche Ökosysteme weichen, und sie verbrauchen viel Wasser. «Ohne Wasser können wir nicht kochen und unsere Pflanzen im Garten nicht giessen. Und ohne unsere Pflanzen haben wir keine Essen», sagt Susana Huenul.
Die Mapuche-Frauen halten eine jahrhundertealte Tradition am Leben, um das einheimische Saatgut zu schützen: «trafkintu», ein Ritual oder eine Art Versammlung, bei der die Frauen Saatgut und Wissen über Pflanzen austauschen und Mutter Erde («ñuke mapu» auf Mapudungún, der Sprache der Mapuche) danken. «Für uns ist die Natur Teil der Kultur», erklärt Huenul. «Wenn wir in der Küche Wissen über unser Saatgut weitergeben, beschützen wir gleichzeitig unsere Kultur.» «Mapu» bedeutet Erde und «che» Mensch – Mapuche heisst also übersetzt «Menschen der Erde».
Viele Mapuche sehen sich im Widerstand – gegen den chilenischen Staat, der ihnen das Land weggenommen hat, gegen die kulturelle Homogenisierung der chilenischen Mehrheitsgesellschaft und gegen die Naturzerstörung durch die Forstunternehmen. Und für Indigene Frauen wie Susana Huenul ist die Küche ein zentraler Ort dieses Widerstands. In der Küche befindet sich der Holzofen, um den sich die Familie und die Gemeinschaft versammelt. Dort ist es warm, und dort wird das Essen zubereitet. Die Küche ist ein sozialer Ort, an dem nicht eine Frau isoliert am Herd steht, sondern viele Frauen gemeinsam kochen, sich austauschen und voneinander lernen. «In der Küche wird Wissen vermittelt», sagte Huenul. Wissen über die Geschichte, über Ernährung und Heilpflanzen. Die Küche hat eine zentrale Bedeutung, denn was in ihr geschieht, hält die Kultur der Mapuche lebendig.
Ana Millaleo ist Mapuche, Soziologin und Musikerin. Sie forscht zu Geschlecht, Sexualität und der Rolle von Frauen in der Mapuche-Gesellschaft. Ausserdem ist sie Mitglied der Hip-Hop-Gruppe Wechekeche ñi Trawün, die auf die sozialen Kämpfe der Mapuche aufmerksam macht. Millaleo erzählt in einem Text mit dem Titel «Resistencia desde el Fogón. Pensando un Feminismo Mapuche» (Widerstand vom Holzofen. Überlegungen zu einem Mapuche-Feminismus) von ihrer Erfahrung in der Küche mit anderen Mapuche-Frauen, die aus einer weissen Perspektive als Ort der Unterdrückung gelesen werden könnte. Für sie sei die Küche ein Ort der Begegnung und der Kraft unter Frauen. «Am Herd, beim Backen von Sopaipillas, fühlte ich mich frei mit den anderen Frauen. Ich weiss nicht, warum ich von dort weggehen sollte, um frei zu sein, wenn es doch einer der Orte ist, an denen ich Freiheit gefunden habe», schreibt sie.
Ins Private gedrängt
Um die Küche als Raum der Macht und des Widerstands zu verstehen, ist es wichtig, die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum aufzubrechen und anzuerkennen, dass der sogenannte private Raum durch diese Trennung entmachtet wurde. Zu diesem Thema hat auch die argentinische Anthropologin Rita Segato geforscht. Ihr zufolge gab es auch vor der Ankunft der spanischen Kolonisatoren bei den Indigenen Völkern eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Der häusliche Raum, in dem sich die meisten Frauen aufhielten, war jedoch nicht privatisiert und verschlossen. Er war nach aussen offen und hatte eine wichtige politische und gesellschaftliche Bedeutung.
Erst die Kolonialisierung habe die Frauen im häuslichen Raum isoliert, was die Gefahr von Gewalt gefördert habe. «Mit der Eroberung und der Kolonialisierung entstand ein öffentlicher Raum, der alles Politische, alle Entscheidungsmacht für sich vereinnahmte», sagt Rita Segato 2019 bei einem Vortrag in der Universidad de Chile in Santiago. «Die Politik wurde zur Aufgabe der Männer. Aus zwei politischen Räumen wurde einer, der beansprucht, für die Interessen aller Mitglieder der Gesellschaft zu stehen. Während der Platz der Frauen auf diese Weise im Privaten verortet wurde und ihre traditionellen Tätigkeiten wie Erziehung, Pflege, Ernährung und Wertevermittlung der Öffentlichkeit entzogen wurden, entstand laut Segato im öffentlichen Raum das universelle Subjekt des weissen, heterosexuellen Mannes, dem sich die Frauen angleichen müssten, um am politischen Leben teilhaben zu können.
Nach Ansicht von Rita Segato gab es auch schon in den Indigenen Gemeinschaften ein kulturelles Patriarchat im Sinne einer Hierarchie zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit sowie ein spezifisches Konstrukt von Männlichkeit: das eines Subjekts, das verpflichtet ist, Status zu erwerben – und zwar durch Aggressivität und Dominanz. Es müsse kriegerische, politische, sexuelle, intellektuelle, ökonomische und moralische Macht erlangt werden, um als männliches Subjekt anerkannt zu sein. Bei den meisten Indigenen Völkern, so Segato, waren Männer dafür zuständig, mit anderen Völkern in Kontakt zu treten oder Krieg zu führen. Deshalb verhandelten oder kämpften die Indigenen Männer im Zuge der Kolonisierung mit den europäischen Männern. So verschmolz das bestehende Patriarchat mit dem modernen kolonialen Patriarchat, das die Kolonisatoren mitbrachten. Die Beziehungen zwischen den Frauen, die auf solidarische Zusammenarbeit ausgerichtet waren, wurden im häuslichen Raum isoliert und ihrer politischen Macht beraubt.
Hinzu kommt das Lohnpatriarchat, wie Silvia Federici es nennt, das die europäischen Kolonisatoren zusammen mit der kapitalistischen Produktionsweise nach Lateinamerika importierten. Sie argumentiert, dass Indigene Frauen in Lateinamerika den Männern zwar vor der Kolonisierung nicht gleichgestellt waren, ihr Beitrag zur Gesellschaft aber als gleichwertig betrachtet wurde. Doch das änderte sich mit der Ankunft der Spanier:innen, die die Wirtschaft und die politische Macht zugunsten der Männer umstrukturierten. Die Entmachtung der weiblich konnotierten Räume prägt die Gewalterfahrungen Indigener Frauen.
Staat lässt Frauen im Stich
Die Araucanía-Region, in der Susana Huenul lebt, ist eine der Regionen mit der höchsten Femizidrate in Chile. Das hat auch mit der Vernachlässigung durch den Staat zu tun. Huenul erzählt, dass Frauen, die bei Gewaltsituationen die Polizei rufen, häufig keine Antwort erhalten. Der Staat sei lediglich präsent, um die Forstunternehmen mit Polizei und Militär zu schützen, die Frauen hingegen lasse er im Stich. In Tirúa gebe es keine staatliche Stelle, an die sich Frauen, die Gewalt erfahren, wenden könnten.
Sie betont aber auch, dass Gewalt in Paarbeziehungen nicht die einzige Form von Gewalt ist, die die Mapuche-Frauen erleben. Sie erfahren auch Gewalt durch den chilenischen Staat, der ihr Land enteignet hat und ihre Kultur diskriminiert, und Gewalt durch die Forstindustrie, die ihre Lebensgrundlagen zerstört. Deshalb sei die Arbeit mit dem Saatgut so wichtig, sagt Huenul. Es handle sich dabei um eine politische Arbeit, die die Frauen ermächtige. Sie hat Veränderungen bei den Frauen beobachtet: Sie haben ein stärkeres Selbstbewusstsein entwickelt, seit sie sich mit dem traditionellen Wissen der Mapuche-Frauen verbunden haben.
Wenn ich heute an die Küche denke, sehe ich einen Raum, in dem Wissen geteilt, Allianzen geknüpft und politische Gespräche geführt werden. Vielleicht beginnt feministische Praxis genau hier: im Zuhören, im Respekt gegenüber Verschiedenheit und in der Suche nach gemeinsamen Räumen, in denen sich Alltag und Politik verbinden. Die Küche – weder romantisiert noch abgewertet – ist ein Ort, an dem sich Beziehungen, Verantwortung und Handlungsspielräume neu ordnen. Sie ist ein Raum, in dem wir gemeinsam Kraft schöpfen können, um eine andere Gesellschaft aufzubauen.