José Mujica (1935–2025): Nie den politischen Kompass verloren

Nr. 20 –

Er war in den siebziger Jahren Stadtguerillero bei den Tupamaros, sass dreizehn Jahre in Haft und wurde 2010 Präsident von Uruguay. José Mujica verzichtete bis zum Ende seines Lebens auf jeden Luxus und blieb ein scharfer Kritiker des Kapitalismus.

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Portraitfoto von José Mujica
José Mujica.

«Meine Zeit ist um, ich werde sterben», hat er Anfang Januar in seinem letzten Gespräch mit einem Journalisten gesagt. Er wolle keine Besuche mehr: «Lasst mich allein.»

José Alberto Mujica, den alle nur «El Pepe» nannten, wollte seine letzten Tage zusammen mit seiner Frau Lucía Topolansky, seinen Hunden und seinen Chrysanthemen verbringen. In seiner kleinen, mit Büchern und Blumentöpfen vollgestopften Dreizimmerwohnung mit Wellblechdach am Rand von Montevideo und in seinen Gewächshäusern. Unter den lateinamerikanischen Präsident:innen war Mujica einzigartig: Er war alles andere als eitel, ein bisschen schrullig und immer bescheiden.

Präsident mit Käfer

In den fünf Jahren seiner Regierung von 2010 bis 2015 hat Mujica Uruguay ganz unspektakulär zu einem für die Region vorbildlichen Sozialstaat gemacht. Er hat den Schwangerschaftsabbruch legalisiert und die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt. Er hat den Genuss von Marihuana erlaubt und den dafür nötigen Hanf auf staatlichen Farmen anbauen lassen. Der Stoff kann in lizenzierten Abgabestellen erworben werden. Die mit dem Schwarzmarkt verbundene Kriminalität ist damit so gut wie verschwunden. Er hat den staatlich garantierten Mindestlohn verdoppelt und die Zahl der Menschen, die in Armut leben, von 18 auf 9,7 Prozent fast halbiert.

Mujica wurde am 20. Mai 1935 in einem Stadtviertel der unteren Mittelschicht am Rand von Montevideo geboren. Seinen Lebensunterhalt hat er sich meist als Chrysanthemenzüchter verdient. Mitte der sechziger Jahre gehörte er zu den Gründer:innen der Guerilla MLN-Tupamaros, die sich mit ihrem Namen auf den indigenen Widerstandskämpfer Túpac Amaru II. bezog.

Mujica war 1969 an der vorübergehenden Einnahme des Städtchens Pando bei Montevideo beteiligt. Solche Aktionen waren selten und hatten vor allem propagandistischen Charakter. Die Tupamaros waren eine Stadtguerilla. Sie entführten und ermordeten Politiker und Funktionäre des staatlichen Repressionsapparats, lieferten sich Feuergefechte mit der Polizei und überfielen Banken.

Im März 1970 bekam Mujica bei einem solchen Feuergefecht sechs Schüsse ab und überlebte nur knapp. Danach kam er ins Gefängnis. Er war insgesamt dreizehn Jahre in Haft, zwei davon in Einzelhaft in einer trockengelegten Pferdetränke und ohne Licht. Er litt in dieser Zeit unter Depressionen und bisweilen auch unter Halluzinationen. Zweimal brach Mujica aus. Einmal kam er im Rahmen einer Amnestie in Freiheit und zuletzt mit dem Ende der Militärdiktatur im Februar 1985. 1989 gründeten die Tupamaros die Linkspartei Movimiento de Participación Popular (Bewegung der Volksbeteiligung), die sich dann dem Bündnis Frente Amplio (Breite Front) aus sozialdemokratischen und linken Parteien anschloss.

Bevor Mujica zum Präsidenten gewählt wurde, war er für den Frente Amplio bereits Abgeordneter und Senator. Bei der Wahl 2009 war er zunächst nicht der Wunschkandidat der Anführer des Bündnisses. Diese kamen in ihrer Mehrheit aus der gehobenen Mittelschicht und hätten als Nachfolger für den von 2005 bis 2010 regierenden Tabaré Vázquez gerne einen ähnlichen Kandidaten nominiert.

Der Freimaurer Vázquez, ein Onkologe und Radiologe und ehemals hochrangiger Fussballfunktionär, war gross und stets gut frisiert und gekleidet. Der kleine Mujica mit seinem Schnauzbart wirkte daneben wie ein Gnom, war selten gekämmt und kleidete sich meist wie ein Bauer. Trotzdem setzte er sich bei der Kandidatenwahl knapp durch und gewann dann die Präsidentschaft in der Stichwahl mit gut 52 Prozent der Stimmen. Die Präsidentenschärpe wurde ihm am 1. März 2010 von seiner Frau umgelegt. Nach der Verfassung von Uruguay ist dafür der Senator oder die Senatorin zuständig, der oder die bei der Wahl am meisten Stimmen bekommen hat. Das war Lucía Topolansky.

Auch als Präsident blieb sich Mujica treu. Er wollte nicht in die Residenz des Staatschefs umziehen, sondern blieb in seiner Dreizimmerwohnung. Zur Arbeit fuhr er mit seinem klapprigen VW-Käfer, Baujahr 1987. Von seinem Gehalt von umgerechnet gut 11 000 Franken pro Monat spendete er neunzig Prozent für soziale Projekte. «Es gibt genug Menschen, die mit weniger auskommen müssen», sagte er. Bei anderen Staatschefs war er wegen seines losen Mundwerks gefürchtet. Er kümmerte sich nicht um Formalitäten oder darum, ob ein Mikrofon an- oder ausgeschaltet war.

Man hat oft über Mujica gesagt, er habe sich als Präsident vom dogmatischen Marxisten zum Pragmatiker gewandelt. Das ist so nicht richtig. Mujica hat seinen politischen Kompass nie verloren. Er war sich nur darüber im Klaren, dass in Uruguay keine Revolution anstand, und er redete nicht wie aus einem marxistischen Lehrbuch, sondern so, dass ihn jede:r verstand. Seine Kapitalismuskritik war einfach und direkt. «Uruguay hat 3,5 Millionen Einwohner und importiert 27 Millionen Paar Schuhe im Jahr. Was für ein Müll», sagte er einmal und zog daraus den Schluss: «Der Markt stiehlt uns das Leben.» Oder: «Die Menschheit sollte weniger arbeiten und mehr Freizeit haben.» Das steht sinngemäss auch am Ende des dritten Bandes des «Kapitals» von Karl Marx.

«Schönes Abenteuer»

Aussenpolitisch hat Mujica immer den venezolanischen Linkspopulisten Hugo Chávez unterstützt, von dem er sagte, er sei «der grossherzigste Regierungschef, den ich kennengelernt habe». Dessen autoritären Nachfolger Nicolás Maduro aber hat er genauso hart kritisiert wie den zum Diktator gewordenen nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega. Die Wahl des Rechtspopulisten Javier Milei zum Präsidenten von Argentinien nannte er einen «Wahnsinn».

Im April 2024 gab Mujica bekannt, dass er an Speiseröhrenkrebs erkrankt sei. Er unterzog sich einer Bestrahlungstherapie. Anfang 2025 aber war klar: Der Krebs war zurückgekehrt und hatte sich im ganzen Körper ausgebreitet. Am Dienstag, 13. Mai, ist Mujica gestorben. «Es gibt nur ein Leben, und das hat ein Ende», hat er einmal gesagt. Dieses Leben sei ein «schönes Abenteuer» und ein «Wunder», aber «wir konzentrieren uns zu sehr auf Reichtum und nicht darauf, glücklich zu sein».