Mauricio Rosencof: Widerstand für immer

Der uruguayische Autor, ehemaliger Guerillero, verschränkt in «Die Briefe, die nicht ankamen» die Geschichte seiner Inhaftierung mit der seiner Verwandten, die in KZs ermordet wurden.

Nicht zufällig führt die Biografie Mauricio Rosencofs, die im Jahr 2000 in Uruguay erschien und zum bestverkauften Sachbuch des Jahres avancierte, im Titel einen Plural: «Las vidas de Rosencof» – die Leben des Rosencof.

Zu vielfältig ist die Geschichte dieses Mannes, als dass man sie auf ein Leben, einen Begriff reduzieren könnte. Als Sohn einer polnisch-jüdischen Einwandererfamilie wird er 1933 in einer Kleinstadt Uruguays geboren. Der Vater Isaak ist Mitglied der Schneidergewerkschaft, nähert sich wie viele unbegüterte Juden der kommunistischen Partei an und abonniert die linke Zeitschrift «Unzer Fraint», die in jiddischer Sprache erscheint. Unter seinem politischen Einfluss wird Mauricio Redaktor bei der kommunistischen Parteizeitschrift «El Popular». Gleichzeitig schreibt er die ersten Theaterstücke und wird binnen kurzem zu einem der bekanntesten Dramatiker des Landes. Seine Bekanntschaft mit Raul Sendic und der Bewegung der Zuckerrohrarbeiter bringt ihn in Kontakt mit der MLN-Tupamaros – jener legendären Stadtguerilla, die ein Jahrzehnt lang Ausstrahlung weit über das kleine Land am Río de la Plata hinaus hatte. In die Führung der Organisation berufen, beweist er sein Gespür für Medienwirksamkeit, als er bei einem klandestinen Treffen dem Regisseur Constantin Costa-Gavras die Informationen liefert, auf denen das Drehbuch des später weltweit Aufsehen erregenden Films «Etat de siège – Der unsichtbare Aufstand» aufbaut. 1972 putschen die Militärs, die Tupamaros werden militärisch zerschlagen und Rosencof verhaftet.

Es folgen Jahre barbarischer Haft: Zusammen mit acht weiteren Gefangenen der MLN wird er zur «Staatsgeisel» deklariert und elfeinhalb Jahre – fast die gesamte Juntazeit – in unterirdischen, nur zwei Quadratmeter grossen Zellen buchstäblich lebendig begraben. Nur mit seinem Zellennachbarn Fernández Huidobro, heute für das Linksbündnis «Frente Amplio» Senator der Republik, kann er sich über ein Klopfalphabet durch die Mauer verständigen. Zeugnis von dieser Zeit legt das Buch «Wie Efeu an der Mauer» ab, das beide nach ihrer Entlassung schreiben. Es ist ein atemberaubender Dialog über ihre Kerkerzeit, wie er in der Gattung der Zeugnisliteratur einzigartig ist. Später entsteht ebenfalls aus der Hafterfahrung der Roman «Der Bataraz», in dem sich Erinnerung, Fantasie und Halluzination zu einem dantesken Universum verdichten.

Im Alter von fast siebzig Jahren wendet sich Rosencof, mittlerweile einer der anerkanntesten Schriftsteller Uruguays, nun dem Schicksal seiner Verwandten zu, die bis auf eine Schwester des Vaters Opfer des Holocaust wurden. In miteinander verwobenen Erinnerungssträngen lässt er die Welt seiner Kindheit wieder auferstehen und gibt den in Polen zurückgebliebenen Verwandten in «Briefen, die nicht ankamen» eine Stimme. Diese Stimme berichtet in beklemmender Weise von der Ghettoisierung der jüdischen EinwohnerInnen von Belzice, einer Kleinstadt in der Nähe von Lublin, von ihrem Leid und ihrer Deportation in die Vernichtungslager. Diese Schilderung wird unterbrochen von eigenen Erinnerungssplittern, ebenfalls in fiktiven Briefen formuliert, die Mauricio seinem Vater aus dem Kerker schreibt.

Das Buch ist ein Schreiben gegen das Vergessen, eine bewegende Liebeserklärung Mauricio Rosencofs an seine Eltern und Ausdruck seiner Verbundenheit mit den Verwandten, die ermordet wurden. Bei seiner ersten Europareise 1964 hat Mauricio Rosencof Auschwitz und das Denkmal des Warschauer Ghettoaufstands besucht. In einem der «Briefe» schreibt er jetzt: «Da habe ich zwei Steine aufgenommen, Vater, zwei Felsbröckchen, und für dich, für mich, für Mama, für alle, Vater, habe ich sie auf einer der Stufen ... niedergelegt und gedacht, jeder Schritt, jeder Stein, jeder Widerstand, Vater, war und ist für immer.»

Mauricio Rosencof: Die Briefe, die nicht ankamen. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Edition Köln. Köln 2004. 128 Seiten. Fr. 25.10