Wahlen in Lateinamerika: Abwehrschlacht statt Aufbruch
In Argentinien, Bolivien und Uruguay kann die Linke die kommenden Präsidentschaftswahlen gewinnen. Ein begeisterndes Projekt hat keiner ihrer Kandidaten.
Lateinamerika ist derzeit eine unruhige Gegend, auch abseits des endlosen Machtkampfs zwischen Präsident Nicolás Maduro und Oppositionsführer Juan Guaidó in Venezuela. Im Kolumbien greift ein grosser Teil der Farc-Guerilla drei Jahre nach der Unterzeichnung eines Friedensvertrags wieder zu den Waffen, weil der rechte Präsident Iván Duque nichts vom damals Vereinbarten umsetzen will. In Ecuador ist der immer neoliberalere Präsident Lenín Moreno nach Protesten wegen Streichung der Benzinsubventionen vorübergehend aus der Hauptstadt Quito in die Hafenstadt Guayaquil geflohen (siehe «Die ungebrochene Macht der Indígenas» ). In Peru hat zur gleichen Zeit Präsident Martín Vizcarra rechtlich nicht gerade einwandfrei das Parlament entlassen, um damit Neuwahlen zu erzwingen. Er hatte bei den Abgeordneten so gut wie keines seiner Anliegen durchgebracht.
In solch unruhigen Zeiten haben die lateinamerikanischen WählerInnen zuletzt gerne Zuflucht bei lautstarken Rechtspopulisten gesucht. Brasiliens Jair Bolsonaro ist das widerwärtigste Beispiel. Nun wird am 20. Oktober in Bolivien und am 27. Oktober in Argentinien und Uruguay ein neuer Präsident gewählt. Und obwohl auch in Argentinien und Bolivien nicht eben ruhige Verhältnisse herrschen, sind in allen drei Ländern linke Kandidaten die Favoriten. Das mag wie eine Trendwende in Südamerika aussehen. Aber keiner der drei linken Spitzenmänner hat dem Wahlvolk ein begeisterndes Projekt anzubieten. Im Fall von Bolivien und Uruguay wollen sie nur das verwalten, was sie selbst oder andere aufgebaut haben. In Argentinien kommt mit grösster Wahrscheinlichkeit der Linksperonismus nach vier Jahren zurück an die Macht, weil die neoliberale Rechtsregierung unter Mauricio Macri das Land in die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Staatsbankrott von Ende 2001 geführt hat.
Die Rückkehr der Fernández
Das Personal ist altbekannt: In Argentinien ist Alberto Fernández Spitzenkandidat der PeronistInnen. Er war schon unter Präsident Néstor Kirchner (2003–2007) und in den ersten Monaten von dessen Ehefrau und Nachfolgerin, Cristina Fernández (2007–2015), Kabinettschef. Jetzt tritt er mit (der mit ihm nicht verwandten) Cristina Fernández als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft an. Kaum jemand in Argentinien glaubt, dass er mehr sein wird als das freundliche Gesicht vor der eigentlich mächtigen, aber polarisierenden ehemaligen Präsidentin.
Das Duo Fernández/Fernández wird es nicht leicht haben. Macri hat zwar lange schöne Reden gehalten, hat alle Probleme dem «schrecklichen Erbe» angelastet, das er nach zwölf Jahren Linksperonismus erhalten habe. Als ehemaliger Präsident des Traditionsfussballklubs Boca Juniors hat er für seine «zweite Halbzeit» wahre Wunderdinge versprochen: «null Armut» und «eine Revolution der Freude». Bislang allerdings hat er die Preise für Strom, Wasser, Gas und öffentlichen Transport um bis zu 2000 Prozent erhöht und das schuldenfrei übernommene Land mit 180 Milliarden US-Dollar verschuldet. Die Inflation stieg von 25 auf fast 60 Prozent, die Armutsquote übersprang die 30 Prozent. Seit er an der Macht ist, schrumpft die Wirtschaft. Für das laufende Jahr hat die Zentralbank ein Minus von 2,9 Prozent prognostiziert. Zuletzt hat Macri in seiner Verzweiflung eine der grössten Sünden begangen, die ein Jünger des freien Marktes begehen kann: Er hat Kauf und Auslandsüberweisungen von Devisen beschränkt. Das wiederum löste einen Ansturm auf die Banken aus. Die ArgentinierInnen erinnerten sich an 2001, als auf Devisenkontrollen die Schliessung der Banken folgte. Sie verstecken ihre Ersparnisse jetzt wieder lieber unter der Matratze.
Trotzdem will Macri wiedergewählt werden, auch wenn das nach einer krachenden Niederlage bei den Vorwahlen im August (16 Prozentpunkte hinter Fernández) unwahrscheinlich ist. Um sich bei peronistischen WählerInnen einzuschmeicheln, denen Cristina Fernández zu links sein könnte, hat er mit Miguel Pichetto selbst einen gemässigten Peronisten zum Kandidaten für die Vizepräsidentschaft gemacht.
Alberto Fernández hat den WählerInnen keine Kehrtwende versprochen. Er will den erdrückenden Schuldendienst bedienen und allenfalls mit den Geldgebern über Zahlungsfristen verhandeln. Und er setzt auf extraktive Wirtschaft: Minen und Erdölförderung für den Export. VertreterInnen internationaler Konzerne sagte er, sie seien «die einzige Rettung». Das klingt nicht eben links. Mehr als ein bisschen Sozialpolitik dürfen die WählerInnen vom Gespann Fernández/Fernández kaum erwarten.
Erfolgreiche Politik als Problem
Seine erfolgreiche Sozialpolitik ist eines der Probleme, mit denen der seit bald vierzehn Jahren regierende Evo Morales in Bolivien zu kämpfen hat. Stetiges Wirtschaftswachstum, die Nationalisierung der Rohstoffe und die Umverteilung der Gewinne aus diesen Geschäften hat im ärmsten Land Südamerikas zum ersten Mal eine nennenswerte Mittelschicht entstehen lassen. Die ist nun eher konsumorientiert und will nichts mehr von den revolutionären Reden des Präsidenten wissen.
Auch sein zweites Problem hat mit erfolgreicher Politik zu tun: Der erste indigene Präsident des Landes hat einen plurinationalen Staat mit vielen Amtssprachen und zwei Rechtssystemen geschaffen und damit der vorher an den Rand gedrängten indigenen Bevölkerungsmehrheit so viel Selbstbewusstsein gegeben, dass sie sich auch gegen den bisweilen autokratisch regierenden Morales wehrt. Indígenas am Uyuni-Salzsee protestieren derzeit, weil sie sich bei einem Joint Venture mit einer deutschen Firma zur Lithiumausbeutung übergangen fühlen. Selbst die KokabäuerInnen, deren Gewerkschaft Morales bis heute präsidiert, revoltieren gegen ihn. Sie befürchten, er wolle ihre Anbauflächen reduzieren. So wird die Wahl vom 20. Oktober für ihn wohl die härteste, seit er Präsident ist. Zum ersten Mal könnte er in eine Stichwahl gezwungen werden.
62-jähriger Jungspund
Einzig Daniel Martínez vom Frente Amplio in Uruguay erscheint wie ein neues Gesicht. Er war aber schon Senator, Industrie- und Energieminister und zuletzt Gouverneur des Hauptstadtbezirks. Der Mann mit staubtrockener Rhetorik ist nur kaum jemandem aufgefallen. Jetzt hat er seine Chance, weil er erst 62 Jahre alt ist. Das bekanntere Personal ist deutlich älter: Tabaré Vázquez (Präsident 2005–2010 und seit 2015) ist 79, der charismatische José Mujica (2010–2015) schon 84.
Grobe Fehler können ihren Regierungen nicht vorgehalten werden. Sie haben für lateinamerikanische Verhältnisse eher erstaunliche Erfolge vorzuweisen: die Lockerung des Abtreibungsrechts etwa, die Gleichstellung von Transmenschen oder die Legalisierung von Marihuana. Das ist alles schon eine Weile her. Zuletzt hat der krebskranke Vázquez die Präsidentschaft nur noch verwaltet. Vom farblosen Martínez erwartet man kaum mehr. Er wird es gegen den umtriebigen Multimillionär Luis Lacalle Pou von der konservativen Nationalen Partei schwer haben.
Trotzdem: An den beiden kommenden Sonntagen sind in Lateinamerika drei linke Wahlsiege möglich. Die Umfragen deuten darauf hin. Sie wären jedoch – sollten sie gelingen – eher das Ergebnis einer Abwehrschlacht denn eines personellen wie inhaltlichen Aufbruchs.