Französische Gewerkschafterin: Sechs Jahre, bis man ihr glaubte
Als Maureen Kearney sich mit der Atomdindustrie anlegt, wird sie erst tätlich angegriffen, dann zur Angeklagten. Heute will sie ihre Geschichte erzählen, «für all jene, die schweigen müssen».

Wenn Maureen Kearney von ihren Erlebnissen erzählt, sei da ein Knoten in ihrer Magengegend, der sich zusammenziehe. «Manchmal überkommt mich ein enormes Gefühl der Ungerechtigkeit, wie in Wellen», sagt sie, «aber die Angst ist nicht mehr da.» Die Angst, die jahrelang ihr Leben dominiert hat, sie nicht mehr schlafen und kaum mehr essen liess. Angst davor, dass ihren Kindern oder Enkelkindern etwas zustossen könnte oder dass sie selbst erneut Opfer eines Angriffs werden würde.
An einem Vormittag im Mai sitzt Kearney in einem Hotelzimmer in der Zürcher Altstadt. Sie ist elegant gekleidet, weisse Bluse, dunkler Blazer, Brille. Das blonde Haar hat die 69-jährige Irin zu einem Dutt hochgesteckt, der Pony reicht bis an die Augenbrauen. Sie spricht ruhig, wählt ihre Worte mit Bedacht. Nur manchmal ist da ein Zucken um ihre Mundwinkel, ein Zittern auf den Lippen, ein nervöser Blick. Kearney ist in die Schweiz gekommen, um ein Buch vorzustellen, das ihre Geschichte erzählt und kürzlich auf Deutsch erschienen ist.
In Frankreich, wo sie seit mehr als dreissig Jahren lebt, erschien die Originalfassung bereits 2019. Vor zwei Jahren kam auch ein Film über ihre Erlebnisse in die Kinos, mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle. Denn Kearneys Geschichte hat alle Elemente eines Thrillers. Man könnte sie für überzogen halten, wäre sie nicht wahr. Es ist die Geschichte einer Gewerkschafterin, die sich mit den Mächtigen des französischen Atom- und Energiesektors anlegte und nach einem brutalen Angriff vom Opfer zur Verdächtigen wurde.
Brisante Verhandlungen
In den nuller Jahren ist Maureen Kearney eine gut vernetzte Frau. Die gebürtige Irin lebt mit ihrer Familie nahe Paris. Sie arbeitet für den halbstaatlichen französischen Atomkonzern Areva, der Kernkraftwerke entwickelt, konstruiert und mit Uran beliefert. Begonnen hat sie bei Areva als Englischlehrerin für Ingenieur:innen, die ins Ausland gehen. Bald tritt sie auch der Gewerkschaft CFDT bei und engagiert sich für die Rechte der Angestellten. Schliesslich übernimmt sie den Vorsitz von Arevas europäischem Konzernbetriebsrat – und vertritt damit rund 45 000 Beschäftigte. In Frankreich, das einen grossen Teil seines Stroms aus der Kernkraft bezieht, bewegt sie sich damit in einem bedeutenden und zugleich undurchsichtigen Sektor. In ihrem Adressbuch finden sich die Kontakte von hochrangigen Firmenchefs, Parlamentariern und Ministerinnen.
Ende 2011 erfährt Kearney von einem brisanten Dossier. Der Stromkonzern Electricité de France (EDF) soll mit seinem Pendant aus China, der CGNPC, über den Transfer von Atom-Know-how verhandelt haben – hinter dem Rücken von Areva und dem französischen Staat. China plant damals den Bau von bis zu 200 AKWs. EDF hofft, durch eine Partnerschaft an diesem Markt beteiligt zu werden. «Es ging um einen massiven Wissenstransfer, ohne unsere Zustimmung», sagt Kearney. Sie befürchtet für Areva den Verlust Tausender Arbeitsplätze. Zwar verfügt der Staat ein Ende der Verhandlungen, nachdem er davon erfahren hat. Doch laut den Informationen, die Kearney erhält, werden sie wieder aufgenommen.
Ein paar Monate später bestätigt ihr eine Quelle aus der Politik: EDF und China sollen über die gemeinsame Entwicklung eines neuen Reaktortyps verhandeln – der mit Arevas Reaktoren konkurrieren würde. Alarmiert wendet sie sich an Regierungsmitglieder und macht die Verhandlungen publik. Und sie löchert Arevas neuen Vorsitzenden, Luc Oursel, mit Fragen. Dieser streitet jegliches Wissen ab.
Im Oktober 2012 erhält Kearney von einem anonymen Absender einen Auszug aus dem internen Firmenmagazin von EDF. Ein Foto darauf zeigt die Unterzeichnung eines Vertrags zur Entwicklung eines gemeinsamen Reaktors – zwischen den Vorsitzenden von EDF, der CGNPC und Areva. Als sie den Areva-Chef damit konfrontiert, eskaliert die Lage. «Er wurde sehr wütend, brüllte mich an. Seitdem rief er mich öfter zu sich, sagte, er habe die Macht, und ich sei nichts.» Seit Wochen erhält sie auch anonyme Drohanrufe. Ihre Tochter hat den Eindruck, verfolgt zu werden. Dennoch lässt Kearney nicht locker, bestrebt, Einblick in das Abkommen zu erhalten.
Der Angriff
Bis zum 17. Dezember 2012. Viele Erinnerungen an jenen Morgen hat Kearney verloren. Sie sei im Badezimmer gewesen, ihr Mann bereits ausser Haus. «Ich erinnere mich an etwas Schwarzes, das mir über den Kopf gezogen wurde. An einen Gegenstand in meinem Rücken, ich dachte, eine Waffe. An das Kratzen eines Messers auf meinem Bauch. Ich hatte den falschen Eindruck, meine Eingeweide lägen auf meinem Schoss. Dass ich mich nicht bewegen dürfte, um zu verhindern, dass sie herunterfallen.» Der Angreifer, so erzählt sie es, habe ihr gesagt: «Das ist die zweite Warnung, es wird keine dritte geben.» Gegen 13 Uhr findet Kearneys Haushälterin sie bewusstlos und geknebelt an einen Stuhl gefesselt, Hände und Füsse mit Klebeband zusammengebunden, eine Mütze über dem Kopf. Ihre Strumpfhose ist heruntergezogen, auf ihrem Bauch ist der Buchstabe A eingeritzt, in ihrer Vagina steckt der Griff eines Messers.
Kearney hat wenig Zweifel daran, dass der Angriff mit ihrem Einsatz gegen die Chinaverträge zusammenhängt. Das A könne für Areva stehen, denkt sie, oder noch eher für «avertissement», also Warnung. Doch die Ermittler:innen verfolgen schon bald eine andere Spur: Sie verdächtigen Kearney, den Angriff selbst inszeniert zu haben. Es sei seltsam, dass ihr alter und, wie sie damals aussagt, halb blinder Hund nicht Alarm geschlagen habe, dass alle Hilfsmittel des Angreifers aus Kearneys Haus stammten, dass keine fremden DNA-Spuren am Tatort gefunden worden seien, dass Kearney sich nicht zur Wehr gesetzt und sie unter der Strumpfhose keine Unterwäsche getragen habe.
Manche dieser Punkte werden sich später als Ermittlungsfehler herausstellen. Andere stammen aus dem Repertoire jener misogynen Argumente, mit denen Opfer sexualisierter Gewalt bis heute häufig konfrontiert werden: der Versuch, aufgrund ihrer Kleidung ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben. Oder die Frage, warum sie sich nicht gewehrt hätten. Dabei reagieren Studien zufolge rund siebzig Prozent der Frauen auf sexuelle Gewalt mit sogenanntem Freezing.
Immer wieder muss Kearney das Erlebte erzählen und gynäkologische Untersuchungen über sich ergehen lassen – die Ermittler:innen wollen verstehen, weshalb es zu keinen Verletzungen kam und das Messer nicht ausgestossen wurde. Als ihr die Beamt:innen schliesslich eröffnen, dass sie fortan als Verdächtige gilt, und ihr nahegelegen, an das Wohl ihrer Familie zu denken, bricht sie nach stundenlangem Verhör zusammen. «Ich sagte, was sie hören wollten, dass ich den Angriff erfunden hätte» – ein Geständnis, das sie später zurücknimmt.
Die folgenden sechs Jahre sind für Kearney eine Tortur. Sie habe in ständiger Angst gelebt, keinen Moment allein sein können und oft über eine halbe Stunde gebraucht, um einen Schritt vor die Tür zu setzen, erzählt sie. Sie erträgt es zu Hause nicht mehr, zieht mit ihrem Mann um, in eine Kleinstadt 350 Kilometer südwestlich von Paris. Dort beginnt sie, in einer Schule Englischunterricht zu geben. In die Gebäude von Areva setzt sie nie mehr einen Fuss. Nach Jahren des Wartens steht sie schliesslich am 15. Mai 2017 in Versailles wegen falscher Anschuldigung vor Gericht. Ihre Hoffnung, sich endlich Glauben zu verschaffen, wird enttäuscht. Das Gericht verurteilt sie zu fünf Monaten Haft auf Bewährung und zu einer Busse von 5000 Euro. «Durch Therapie war es mir gelungen, mich etwas besser zu fühlen, nun fiel ich wieder in ein schwarzes Loch», sagt sie.
«Komplett zerstört»
Erleichterung kommt erst anderthalb Jahre später. Bei der Vorbereitung ihres Berufungsprozesses lernt Kearney einen Militärpsychologen und Experten für posttraumatische Belastungsstörungen kennen. Er ist von der Wahrheit ihrer Aussagen überzeugt und sagt vor Gericht aus. Ihrem neuen Anwalt gelingt es, Fehler in den Ermittlungen aufzuzeigen: etwa dass die DNA-Proben vom Tatort verloren gingen und nie ausgewertet wurden. Auch kann er glaubhaft darlegen, dass sich Kearney wegen einer Schulterverletzung, die sie sich ein paar Wochen vor dem Angriff zugezogen hatte, kaum selbst hätte fesseln können. Am 7. November 2018 spricht sie das Berufungsgericht von Versailles frei und beklagt die Mängel der Ermittlungen.
Als sie davon erfahren hätten, habe ihr Mann den Champagner aus dem Kühlschrank geholt. Freund:innen, die mit ihnen das Urteil abwarteten, seien vor Freude in die Luft gesprungen, erzählt Kearney, «aber ich war komplett zerstört». Sechs Jahre lang habe sie beteuert gehabt, die Wahrheit zu sagen. «Ich konnte keine Luftsprünge machen, weil man mir endlich glaubte.» Für eine neue Klage fehlt ihr die Kraft.
In Frankreich schlägt Kearneys Freispruch keine grossen Wellen. Areva war in den letzten Jahren aus anderen Gründen in den Schlagzeilen. Laut der Journalistin Caroline Michel-Aguirre, die das nun übersetzte Buch über Kearney geschrieben hat, wurden die Verhandlungen mit China letztlich zwar abgebrochen, doch nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 ist die Atombranche angeschlagen, 2015 wird der stark verschuldete Areva-Konzern zerschlagen. Tausende verlieren ihre Jobs. Ein Teil von Arevas Aktivitäten wird von EDF übernommen, das neue Partnerschaften mit China eingeht.
Der Angriff auf Maureen Kearney ist bis heute nicht aufgeklärt. Französische Medien sind einzelnen Anhaltspunkten nachgegangen. Arevas Personalchefin habe ihr gesagt, man vermute einen übereifrigen Mittelsmann, sagt etwa Anne Gudefin, Kearneys Nachfolgerin im Betriebsrat, in einer Dokumentation. Die Journalistin Michel-Aguirre ist bei ihren Recherchen auf einen Fall gestossen, der Ähnlichkeiten aufweist: 2006 wurde die Frau eines Mitarbeiters des französischen Wasserversorgers Veolia mit ähnlichen Verletzungen zu Hause aufgefunden, nachdem ihr Mann Korruption seines Unternehmens angezeigt hatte. Der Vorsitzende des Konzerns war derselbe, der zum Zeitpunkt des Angriffs auf Kearney den Stromversorger EDF leitete.
Kearney selbst will sich nicht an Spekulationen beteiligen. Sie engagiert sich heute in einem Verein für Opfer sexualisierter Gewalt. Immer wieder wird sie auch von der Gewerkschaft CFDT zu Workshops eingeladen. «Dabei geht es nicht darum, Gewerkschafter:innen vom Handeln abzuhalten. Aber ich will sie für die möglichen Folgen sensibilisieren.» Ihre Geschichte will Kearney erzählen, solange sie Gehör findet. «Weil das wie eine Art Therapie ist. Und weil ich sie erzählen kann. Das schulde ich all jenen, die schweigen müssen.»
Caroline Michel-Aguirre: «Die Gewerkschafterin. Im Räderwerk der Atommafia». Aus dem Französischen von Eva Stegen. Verlag Edition Einwurf. Rastede 2025. 224 Seiten.