Fotografie: Spuren, die bleiben

Nr. 24 –

Wie lassen sich Flucht und Migrationsbewegungen respektvoll und doch realitätsnah darstellen? Zwei eindrückliche Fotobücher geben Antworten in Bildern. Eine der beiden Arbeiten hat sogar einen weltweit gefeierten Film inspiriert.

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ein Geflüchteter zeigt seine verletzten Hände welche einbandagiert sind
Mit Empathie fotografiert: Ein von ungarischen Grenzpolizisten verletzter Geflüchteter in der Nähe von Horgoš an der serbisch-ungarischen Grenze im Oktober 2022. Foto: Klaus Petrus

In seiner Arbeit geht es nicht nur darum, Grenzen zu zeigen, sondern auch darum, die Grenzen im Kopf zu verschieben. Seit 2016 reist der Schweizer Fotograf Klaus Petrus regelmässig an Europas Aussengrenzen und dokumentiert Fluchtwege quer durch den Balkan. Nun hat er seine Langzeitbeobachtungen als Buch publiziert. Der Band «Spuren der Flucht» mit 145 Schwarzweissfotografien kommt fast ohne Text aus. Lediglich der Buchumschlag lässt sich zu einer Karte auffalten, gespickt mit Zitaten, Gedanken und Fakten zu seinen Reisen. In einem kurzen Einführungstext stellt Petrus die Frage: Wie werden Flucht und Migration dargestellt? Und welchen Einfluss nimmt Fotografie auf unsere Wahrnehmung flüchtender Menschen?

Seit je überwinden Menschen unmenschliche Hindernisse in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Sie verlassen ihre Heimat, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Die Darstellungen davon gehen weit zurück – bis in die Bücher der Bibel. Etwa beim berühmten Auszug der Israeliten aus Ägypten, einem Massenaufbruch, bei dem Moses das Meer teilte. Die dokumentarische Fotografie zeigt dagegen Flucht ohne Zauberei: als brutales Unterwegssein, als orientierungslose Warterei und als grosse Misere.

Aus der Geschichte der Schweizer Dokumentarfotografie haben sich etwa die Bilder von der Landesgrenze während des Zweiten Weltkriegs in unsere Erinnerung eingebrannt oder auch Rob Gnants Reportage von der ungarisch-österreichischen Grenze aus dem Jahr 1956. Aber auch das waghalsige Unterfangen Manuel Bauers, der in den 1990er Jahren die Flucht einer tibetischen Familie durch den Himalaja dokumentierte – und sich dabei ähnlichen Gefahren aussetzte wie die Geflüchteten. Bei der fotografischen Auseinandersetzung mit Migration kann die körperliche Erfahrung des Fotografen Teil der Erzählung werden.

Bis ins Parlament

Auch Klaus Petrus ist in seinen Bildern präsent – als Schatten, wie auch in seiner Zugewandtheit zu den Porträtierten. Sie sind nicht Objekte, sondern wirken vertraut, stehen in einem Dialog mit dem Fotografen. Im Umschlagtext zitiert Petrus den sarkastischen Kommentar des Geflüchteten Amar Z.: «Siehst du, wir haben gelernt, für euch zu posieren.» Ein Bild, das zeigt, wie drei Menschen durch hohes Gras laufen, ist möglicherweise das einzige im Band, das Flucht als aktive Handlung darstellt. Viele andere Fotografien bewahren nur noch die Spuren auf: Fussabdrücke im Schnee, eingeritzte Botschaften in Mauern, Narben am Körper oder Überbleibsel temporärer Behausungen. Der Blick von Petrus ist empathisch, fokussiert auf Details; er fängt Widersprüche ein, bleibt immer respektvoll.

Aber ist die fotografische Dokumentation solcher Schicksale nicht auch fragwürdig? Und wären vielleicht die Smartphone-Fotos der Migrant:innen selbst die besseren Zeugnisse? Wie Petrus beantwortet auch Agnieszka Sadowska solche Zweifel im kürzlich erschienenen Fotoband «Ujawnienie/Exposure» mit eindrücklichen Bildern. Die Fotografin der polnischen Tageszeitung «Gazeta Wyborcza» dokumentierte die Situation im Białowieża-Wald an der polnisch-belarusischen Grenze. Ihr Buch versammelt Fotografien vom Sommer 2021, als zahlreiche Migrant:innen dort versuchten, nach Europa zu gelangen, bis zur Fertigstellung des zweiten Grenzzauns und der Erweiterung der Sperrzone Anfang 2024.

Wie die polnische Regisseurin Agnieszka Holland in einem Gastbeitrag im Buch schreibt, benutzte sie Sadowskas Fotoarbeit als zentrale Vorlage für «Green Border» (2023), ihren erschütternden Spielfilm über die Pushbacks im Białowieża-Wald. Das unterstreicht die Relevanz von fotografischer Dokumentation. Ohnehin sind Sadowskas Fotos in Polen nicht einfach Newsbilder, sondern sie machen Politik und werden dafür bis ins Parlament getragen. So fotografierte Sadowska auch zahlreiche Migrant:innen mit der Schrifttafel «I want asylum in Poland», weil sich der Staat mit der Lüge aus der Verantwortung herauszureden versuchte, es habe gar niemand in Polen Asyl beantragt.

Flipflops und Rollkoffer

Der Band «Ujawnienie/Exposure» ist teilweise schwer zu ertragen – Gewalt und Tod sind allgegenwärtig. Wie Petrus zeigt auch Sadowska viele Spuren der Flucht: verlorene Gegenstände, improvisierte Schlafplätze oder medizinische Notversorgung, etwa mit dem Bild einer aufgehängten Infusion mitten im Wald. Die Schicksale der flüchtenden Menschen werden im Buch immer wieder unterbrochen durch teils idyllisch, teils bedrohlich wirkende Bilder des Białowieża-Waldes.

Zu Besuch in Zürich, erzählt die Fotografin im Gespräch davon, wie sie heute im Wald nicht mehr die Schönheit der Wildnis sieht, sondern von der Erinnerung an zahlreiche tragische Begegnungen heimgesucht wird. Begegnungen mit Menschen, die in diesem Wald hin und her getrieben wurden: hochschwanger, erschöpft, verletzt, verloren; mit ihren Flipflops und Rollkoffern komplett falsch ausgerüstet für den sumpfigen Boden. Über hundert Menschen starben im Białowieża-Wald, darunter ein ungeborenes Kind. Die Spuren ihrer Verzweiflung wird die Natur irgendwann überwuchern, die Fotografien existieren weiter.

«Spuren der Flucht» von Klaus Petrus kann über die Website klauspetrus.ch bezogen werden. «Ujawnienie/Exposure» von Agnieszka Sadowska ist im Herbst 2024 bei der Galerie Sleńdzińskich in Białystok erschienen und ist über deren Website erhältlich: www.galeriaslendzinskich.pl.

Florian Bachmann ist seit 2016 bei der WOZ als Fotograf und Bildredaktor angestellt. Als Fotograf selbst noch nie an Europas Aussengrenzen unterwegs, arbeitet er derzeit an einer Videoarbeit zur Ausstellung «Rettende Schweiz? Flucht im Rheintal» für das Museum Prestegg in Altstätten SG.