Agnieszka Holland: «Jetzt wundern wir uns, dass wir Flüchtlinge haben»

Nr. 7 –

Die zwei Gesichter Europas: In ihrem Spielfilm «Green Border» thematisiert die polnische Regisseurin Agnieszka Holland die Pushbacks an der Grenze zwischen Polen und Belarus.

Agnieszka Holland Ende Januar in Berlin
In Polen wurde sie wegen ihres neuen Films aufs Übelste angefeindet: Agnieszka Holland Ende Januar in Berlin. Foto: Imago

WOZ: Agnieszka Holland, was hat Sie motiviert, einen Spielfilm über die teils brutale Abschiebepraxis an der polnisch-belarusischen Grenze zu machen?

Agnieszka Holland: Ich wollte den Film machen, weil die Realität, die ich beschreibe, gegenwärtig ist. Diese Ereignisse sind geschehen und geschehen auch weiterhin. Die Entscheidungen darüber, wie wir mit flüchtenden Menschen und mit Migranten umgehen sollen, die versuchen, in den besseren Teil der Welt zu gelangen, sind nicht nur ein Massstab für unseren Humanismus. Sie werden auch richtungsweisend sein für die politische und moralische Zukunft unseres Kontinents. Ich habe bereits drei Filme über den Holocaust gemacht sowie einen über den Holodomor, Stalins Verbrechen in der Ukraine. Heute, da die Welt an einem Scheideweg steht, können die Themen Flucht und Migration darüber entscheiden, wohin wir steuern werden.

«Green Border» handelt von der Situation in Polen. Denken Sie, dass sich Politik und Behörden etwa in Deutschland oder Österreich ähnlich verhalten würden, wenn diese Länder an Belarus grenzten?

Es ist sicher kein spezifisch polnisches Phänomen. Wenn wir uns die Geschichte und die Gegenwart anschauen, gibt es keine Nation, die immun dagegen wäre, verbrecherische Systeme zu akzeptieren. Und auch nicht dagegen, sich einer Ideologie unterzuordnen, die an die niedrigsten Instinkte appelliert. Natürlich sind die Argumente, mit denen die Behörden die Menschen dazu bringen wollen, sich auf die eine oder andere Weise zu verhalten, je spezifisch: In einigen Ländern verweisen sie auf die Religion, in anderen auf die Geschichte, in wieder anderen auf militaristische Traditionen. Besteht die Erlaubnis, die Ermutigung oder der Befehl von Autoritäten – ob staatlich, militärisch oder religiös –, zu stigmatisieren, zu entmenschlichen und schliesslich zu deportieren und möglicherweise zu vernichten, dann werden sich in jeder Nation Menschen finden, die dazu bereit sind.

Sie zeigen im Film die Situation in Polen, doch das Thema betrifft die gesamte EU. Jüngst brachten die Mitgliedsländer eine weitere Verschärfung der Asylpolitik auf den Weg. Muss man nicht verschärfen, um die Zahl der Flüchtenden zu begrenzen?

All diese Massnahmen sind auf lange Sicht unwirksam. Deshalb sage ich, dass wir an einem Scheideweg stehen: Wenn wir unsere Einstellung zu dieser globalen Herausforderung nicht völlig ändern, wird es zu einem unvorstellbaren Ausbruch von Gewalt kommen – dann ist die Konsequenz wahrscheinlich der Massenmord. So wie es die Saudis an ihrer Grenze machen, werden wir Maschinengewehre aufstellen und auf jeden schiessen, der sich nähert. Und wir werden die Boote im Mittelmeer nicht mehr vom Ufer abdrängen oder nicht in die Häfen lassen, sondern wir werden sie bombardieren.

Wir werden uns nie völlig in unserer Festung verschanzen können. Durch den polnischen Zaun an der Grenze zu Belarus, auf den unsere Behörden so stolz sind, kommen ähnlich viele Menschen herein wie zuvor, und die Korruption blüht dort. Es ist möglich, eine Situation zu meistern, in der wir es mit mehreren Millionen, vielleicht sogar zehn oder zwanzig Millionen Migranten zu tun haben. Mit einer entsprechenden Migrationspolitik wäre es schon jetzt möglich, eine grosse Zahl von Menschen auf unserem Kontinent aufzunehmen.

Was Saudi-Arabien angeht, beziehen Sie sich auf einen Bericht von Human Rights Watch vom August 2023. Dieser wirft dem saudischen Grenzschutz vor, Hunderte äthiopische Flüchtende gezielt erschossen zu haben. Warum sehen Sie das auch für Europa kommen?

Vor allem wegen der Klimakatastrophe. Was wir hätten tun können, haben wir nicht getan. Einerseits haben wir die Ressourcen der Länder der Dritten Welt in völlig unverantwortlicher Weise in Anspruch genommen und auch die politische Situation zu unseren Gunsten manipuliert, ob es nun die Franzosen oder die Belgier oder die Amerikaner waren. Andererseits haben wir in den letzten Jahren unter dem Vorwand, Diktatoren zu stürzen, den Nahen Osten faktisch zerstört und den Zusammenbruch dieser Länder herbeigeführt. Das sind jetzt gescheiterte Staaten: der Irak, Syrien, teilweise Afghanistan und natürlich Libyen.

Wir haben also eine ganze Zone geschaffen, aus der die Menschen fliehen müssen und fliehen werden. Wir haben eine Klimakatastrophe geschaffen, die so weit geht, dass ganze Landstriche bereits unbewohnbar geworden sind. All das haben wir getan, und jetzt wundern wir uns, dass wir Flüchtlinge haben.

In vielen Ländern in Europa sind rechte Regierungen an der Macht. Auch in Polen lassen sich einige Merkmale beobachten, die der italienische Autor und Philosoph Umberto Eco für den «ewigen Faschismus» als charakteristisch sah, etwa die Dehumanisierung einer Gruppe. Sehen Sie die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zumindest in Teilen als faschistisch?

Ich habe eine Reihe von Gerichtsprozessen, von denen einige gegen mich angestrengt wurden und von denen ich einige selbst führe, und mir wäre es lieber, wenn keine weiteren dazukämen. Ich kann es mir nicht leisten, so viele Anwälte zu bezahlen, und die, die unentgeltlich für mich arbeiten, sollen nicht noch mehr unbezahlte Arbeit leisten. Deshalb werde ich den Begriff «Faschismus» im Zusammenhang mit der PiS nicht verwenden.

Vor dem Hintergrund, wie Umberto Eco, Timothy Snyder oder Madeleine Albright zu erfassen versucht haben, was der Begriff «Faschismus» über seinen historischen Wert hinaus beinhaltet, kann man jedoch sagen: Viele Aspekte des politischen Lebens in Polen sind davon durchdrungen. Einige Organisationen, die von der PiS-Regierung grosszügig finanziert wurden, knüpfen direkt an Vorkriegstraditionen an, die eindeutig faschistisch waren.

Filmstill aus «Green Border»: Geflüchtete bei der Verhaftung durch einen Grenzschutzbeamten
«Die Themen Flucht und Migration können darüber entscheiden, wohin wir steuern werden»: «Green Border» zeigt Geflüchtete als Menschen mit Gesichtern und Geschichten. Still: Trigon Film

Zurück zu Ihrem Film: In «Green Border» zeigen Sie Geflüchtete als Menschen mit einem Gesicht, einem Namen, einer Geschichte. Ist es nicht vor allem das, was rechte Regierungen so sehr fürchten: dass hier der Mensch hinter dem sogenannten «illegalen Migranten» sichtbar wird?

Für uns war das Wichtigste, dass diese Menschen im Film ein integrales Schicksal und eine Persönlichkeit haben. Viele der Schauspieler hatten selbst Fluchterfahrungen. Jalal Altawil und Mohamad Al Rashi etwa sind syrische Schauspieler, die nach 2011 fliehen mussten. Sie haben ihren ganzen Erfahrungsschatz und ihr Wissen ins Drehbuch eingebracht. Jalal war drei Jahre lang in einem Flüchtlingslager und arbeitete dort als Pädagoge und Kunsttherapeut für Kinder. Bei den Flüchtlingskindern in unserem Film handelt es sich um syrische Kinder, die nach sechs Pushbacks schliesslich in die Türkei gelangten und nun sichere und glückliche türkische Staatsbürger sind.

In einer Szene im Film fordert ein Grenzschützer eine Aktivistin auf, sie solle, weil sie eine dunklere Hautfarbe habe, etwas auf Polnisch sagen, als Identitätsnachweis. Darauf sagt sie das «Vater unser» auf. Sie selbst, Frau Holland, haben jüdische Vorfahren, und diese Szene hat, wie Sie in einem Interview sagten, einen historischen Bezug. Welchen?

Als mir eine der Aktivistinnen diese Begebenheit schilderte, lief mir ein Schauer über den Rücken. Denn das ist genau, was meinen Verwandten während des Holocausts widerfuhr. Jüdische Männer konnte man einfacher überprüfen – man zog ihnen einfach die Hose herunter. Aber für jüdische Frauen und Kinder war es überlebenswichtig zu wissen, wie man katholisch betet.

Bei der Arbeit mit den jungen Schauspielerinnen merkte ich, dass ihnen dieser Bezug überhaupt nicht bewusst war. Genauso wie die Grenzbeamten auch nicht wissen, dass sie eine ähnliche Methode wie die Nazis anwenden, wenn sie den aufgegriffenen Flüchtlingen sagen, dass sie nach Deutschland gebracht würden, um sie zu beschwichtigen. Ich habe es schon oft erklärt, wenn ich gefragt wurde: Warum noch ein Film über den Holocaust? Weil dieser nicht tot ist, er schläft nur. Er kann jederzeit wieder erwachen, und in gewisser Weise glaube ich, dass er jetzt global erwacht.

Bevor sie abgewählt wurde, warf die PiS-Regierung Ihnen vor, Sie seien antipolnisch. Sie selbst sagen, der Film sei aus Liebe zu Polen entstanden. Was stimmt nun?

So wie es zwei Gesichter Europas gibt, gibt es auch zwei Antlitze Polens. Das eine ist die Tradition der Offenheit, der Gastfreundschaft, der Menschenrechte und der Hochkultur. Aber es gibt auch ein Gesicht der Unterdrückung, des Nationalismus, des Rassismus und der Pogrome. Die PiS-Regierung identifizierte sich offenbar mit Letzterem, und deshalb hat mein Film sie so getroffen.

Ich schätze indes das Gesicht Polens, das im Februar 2022 in grosser Zahl an der ukrainischen Grenze zusammenkam. Dort gab es Solidarität, Mitgefühl und diesen elementaren christlichen Respekt vor anderen Menschen, unabhängig davon, ob dieser Respekt im Glauben oder in einer säkularen Ethik wurzelt.

Das Interview wurde Ende September 2023 geführt, als die PiS-Regierung gerade noch im Amt war. Die entsprechenden Stellen wurden geringfügig angepasst.

Grenzpolitik in Polen : Bleibt alles anders?

Die neue polnische Regierung will nach eigenem Bekunden alles besser machen. Doch in der Migrationspolitik hält das Dreierbündnis aus Bürgerkoalition (KO), Drittem Weg und der Neuen Linken bisweilen an der Politik der Vorgängerregierung fest. Wie die im Oktober abgewählte Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist auch die Regierung von Premierminister Donald Tusk gegen den EU-Asyl- und Migrationspakt.

Am Donnerstag vergangener Woche erhielt Brüssel von den Mitgliedstaaten grünes Licht, den im Dezember ausgehandelten Asylkompromiss zu finalisieren. Doch der Deal sichere «kein Gleichgewicht zwischen Verantwortung und Solidarität», wie die neue Regierung in Warschau ihre Ablehnung begründet.

Die Kritik richtet sich vor allem gegen den geplanten Mechanismus zur Verteilung von Flüchtlingen: Das Abkommen gehe «nicht ausreichend auf die besondere Situation der Länder ein, die an Belarus und Russland grenzen und daher innerhalb der künstlich geschaffenen Migrationsrouten unter ständigem und starkem Druck stehen.» Gleichwohl – und anders als die PiS – will das neue Bündnis nach inoffiziellen Informationen den Mehrheitsbeschluss der EU umsetzen, sollte er in Kraft treten.

Auch in Polen selbst hat sich die Situation an der Grenze zu Belarus bislang nicht geändert. Allein in den ersten fünf Wochen seit dem Amtsantritt der neuen Regierung am 13. Dezember wurden knapp hundert Pushbacks nach Belarus durchgeführt. Die entsprechende PiS-Verordnung aus dem Jahr 2021 ist weiterhin in Kraft, auch wenn sie Jurist:innen zufolge gegen Polens Verfassung wie auch gegen internationales Recht verstösst. Auch daher veröffentlichten über hundert polnische NGOs am 9. Januar einen Appell, in dem sie die Regierung aufforderten, die «Praxis der Pushbacks sofort einzustellen». Sie verweisen darauf, dass seit 2021 mindestens 55 Menschen beim Versuch des Grenzübertritts nach Polen und infolge von Pushbacks ihr Leben verloren hätten.

Den neuen Innenminister, Maciej Duszczyk (KO), ficht das bislang kaum an: «Wir suchen nach Lösungen, die die Grenze sichern, aber mit einem Element des Humanismus», sagte er Mitte Januar. «Pushbacks, Deportationen oder, wie ich sage, Umkehrungen, auch die gewaltsamen, werden dann beendet, wenn wir die Fluchtroute schliessen.»

Im Parlament drängt lediglich die Splitterpartei Razem, die als Teil der Neuen Linken die neue Mehrheit stützt, aber nicht Teil der Regierung ist, auf Änderungen. Die Pushbacks aufgrund der PiS-Verordnung würden sich «in nichts von den lächelnden europäischen Pushbacks» unterscheiden, sagte Adrian Zandberg von Razem: «Die Gewalt, das Leid und der Tod sind genau dieselben.»

Während des Wahlkampfs hatten die damaligen Oppositionsparteien, die jetzt die Regierung bilden, das Thema Pushbacks weitgehend gemieden. Donald Tusk indes hatte stets betont, die Grenze würde unter seiner Führung «wirklich dicht werden».

Jan Opielka, Gliwice