Proteste in den USA: Das produzierte Chaos
Dass die Situation in Los Angeles eskaliert, könnte Donald Trump helfen. Hinter der Entsendung von Militär durch die Regierung steckt politisches Kalkül.

Beginnen wir mit einer Tatsache, die hilft, die Ereignisse der vergangenen Tage, aber auch die sich abzeichnenden Entwicklungen in den USA allgemein zu erklären: Was Donald Trump bislang als Präsident gemacht hat, ist nicht populär.
Eine Umfrage nach der anderen zeigt, dass viele Amerikaner:innen seine Politik missbilligen, sei es das manische Zollwirrwarr oder die Demontage des Sozialstaats. Teile der republikanischen Wähler:innenschaft haben sich bereits abgewandt, unter ihnen Veteran:innen, die die Kürzungen zu spüren bekommen. Selbst beim Thema Migration, wo eine Mehrheit restriktivere Gesetze befürwortet, sehen grosse Teile der Bevölkerung die konkrete Umsetzung, etwa Abschiebungen ohne gerichtliche Prüfung, kritisch. 51 Prozent der Amerikaner:innen lehnen Trump im Durchschnitt aller aktuellen Befragungen ab. Lange nicht mehr stand ein US-Präsident am Anfang seiner Amtszeit so schwach da.
Man könnte nun einwenden, dass einem wie Trump, der ja sowieso viele demokratische Prinzipien missachtet, die Stimmung im Land egal sein kann. Aber das stimmt nicht. Trump ist zum einen ein Narzisst, und zum anderen ist er auch aus realpolitischen Gründen darauf angewiesen, zumindest seine Basis und seine Partei hinter sich zu haben. Ohne diesen Rückhalt werden die für ihn zentralen Gesetzesvorhaben scheitern; bei den Zwischenwahlen im nächsten Jahr droht zudem der Verlust der Mehrheit im Kongress. Solange Trump nicht Justiz und Wahlurnen unter Kontrolle hat, muss er etwas liefern: konkrete Erfolge und Bilder der (vermeintlichen) Stärke. Je weniger das Erste gelingt, desto wichtiger wird das Zweite.
In Los Angeles ist es am vergangenen Wochenende zu den ersten grösseren Ausschreitungen im Land gekommen, seit Trump die Präsidentschaft übernommen hat. Provoziert wurde das Ganze von ihm selbst. Auslöser der Proteste waren Razzien der Bundesbehörde Immigration and Customs Enforcement (ICE) gewesen, die seit Januar von Trump angewiesen ist, so viele undokumentierte Migrant:innen wie möglich festzunehmen. ICE-Beamt:innen ziehen derzeit im ganzen Land durch migrantische Communitys, lauern in Gerichtsgebäuden und Spitälern, vor Arbeitsplätzen und Schulen, um Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung abzutransportieren. Immer mehr Leute stellen sich diesen Razzien in den Weg.
In der Innenstadt von Los Angeles und im Vorort Paramount kam es am vergangenen Freitag zu genau solchen Konfrontationen. Die Polizei nahm dabei unter anderem David Huerta, einen bekannten Gewerkschaftsführer, der auch demonstrierte, auf brutale Weise fest. Das beförderte die Proteste zusätzlich. Am Samstag gab die Regierung bekannt, die Nationalgarde nach L. A. zu schicken – und zwar gegen den Willen des demokratischen Gouverneurs Gavin Newsom. Eine solche Intervention hatte es seit den 1960er Jahren nicht mehr gegeben. Los Angeles müsse «von der Migranteninvasion befreit werden», schrieb Trump und forderte die Festnahme aller Maskierten – womit er Demonstrant:innen meinte. Dabei sind es gerade seine ICE-Cops, die vermummt Menschen verhaften, ohne sich auszuweisen.
Die Bastille steht noch
Am Sonntag eskalierte die Situation. Ein Grossaufgebot der Polizei rückte in Downtown L. A. an und setzte bald Schlagstöcke und Tränengas ein. Demonstrant:innen nahmen einen Abschnitt der Autobahn in Beschlag und zündeten eine Reihe selbstfahrender Fahrzeuge an. Immer wieder kam es zu extremer Polizeigewalt. Ein Video zeigt, wie ein Beamter gezielt mit Gummimunition auf eine TV-Journalistin schiesst; ein anderes, wie mehrere Polizist:innen mit ihren Pferden über einen am Boden liegenden Mann trampeln. Am Montag beorderte Trump dann sogar 700 Marines an die Westküste. Neben lokaler Polizei, der Abschiebebehörde ICE und der Nationalgarde stehen jetzt also auch Berufssoldat:innen mit Sturmgewehren in Los Angeles zum Einsatz bereit.
Los Angeles ist wieder einmal die Stadt, in der sich die grossen Konflikte des Landes entladen. 1965 führte die dauernde Unterdrückung der Schwarzen Bevölkerung im Viertel Watts zu einer der grössten Ausschreitungen der Zeit der Bürger:innenrechtsbewegung. 1992 folgte auf den Freispruch von vier Polizeibeamten, die im Jahr zuvor den Afroamerikaner Rodney King exzessiv verprügelt hatten, ein einwöchiger Aufstand. 2006 zogen Hunderttausende durch die Stadt, um gegen die Kriminalisierung von Migrant:innen zu demonstrieren. Auch im Frühsommer 2020, nach dem Mord an George Floyd in Minneapolis, brannte L. A.
«Die weltgeschichtliche Bedeutung – und Eigentümlichkeit – von Los Angeles liegt darin, dass die Stadt für den fortgeschrittenen Kapitalismus eine Doppelrolle als Utopie und Dystopie spielt», schrieb der linke Autor Mike Davis 1990 in seinem Buch «City of Quartz». Da oben Hollywood, da unten die Slums – jeweils von der Polizei bewacht, nur mit gegenteiliger Mission. Was der inzwischen verstorbene Davis vor 35 Jahren über die «Festung Los Angeles» schrieb, gilt heute umso mehr.
Die Proteste am Sonntag fanden vor dem Metropolitan Detention Center statt – einem Gefängnis, das auf dem Cover von «City of Quartz» zu sehen ist und das Davis damals wegen der weissen Fassade und seiner hotelartigen Architektur als «postmoderne Bastille» bezeichnete. Zur Mitte dieser Woche lässt sich festhalten, dass die Bastille noch steht. Die Bürgermeisterin von Los Angeles rief am Dienstagabend eine Ausgangssperre für einen Teil der Innenstadt aus, um «Vandalismus und Plünderungen zu stoppen». Die Lage in L. A. bleibt angespannt, die politische Gesamtsituation sowieso.
Unruhen als Chance für Trump
Während Trumps Regierung immer offener faschistisch agiert, nimmt auch die Gegenwehr der Bevölkerung zu. Die Leute organisieren sich in lokalen Netzwerken, oft geheim, und sie stellen ihre Körper den Abschiebetruppen in den Weg. In den vergangenen Wochen kam es in zahlreichen Städten zu Protesten, manche gross und familienfreundlich, andere krawalliger.
Trumps Regierung reagiert nicht auf Chaos und Gewalt, sie produziert Chaos und Gewalt. Als Maxime scheint zu gelten, was der nationalsozialistische Rechtstheoretiker Carl Schmitt vor über hundert Jahren aufschrieb, dass nämlich derjenige souverän sei, der über den Ausnahmezustand entscheide. «Wir sehen in den Unruhen in L. A. eine grosse politische Chance», sagte ein hochrangiger Berater Trumps Anfang dieser Woche gegenüber dem Onlinemagazin «Axios». So nämlich könne man eine Polarität beschwören: auf der einen Seite die vermeintlich ordnungshütenden Republikaner, auf der anderen Seite «radikale Linke und Demonstranten, die vor brennenden Autos die mexikanische Flagge schwenken». Mit diesem Narrativ will Trump nicht nur Repressionen legitimieren und Widerstand abschrecken, sondern auch die eigene Basis und Partei mobilisieren.
Bis zum 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag, soll das grosse Haushaltsgesetz verabschiedet werden, das Trump als «Big Beautiful Bill» preist. Darin enthalten sind Steuererleichterungen vor allem für Reiche, eine Aufrüstung von Polizei, Grenzschutz, ICE und Militär sowie drastische Kürzungen im Sozialbereich. Bis zu zehn Millionen Amerikaner:innen könnten damit ihre Krankenversicherung verlieren. Das Ganze ist ein desaströses Umverteilungsprogramm von unten nach oben. Im Repräsentantenhaus wurde das Gesetz bereits abgesegnet, jetzt muss es durch den Senat; Trump kann sich nur wenige Abweichler:innen leisten. Auch in dieser Hinsicht lässt sich der provozierte Aufstand in Los Angeles als Mittel zum Zweck betrachten: Es geht darum, Geschlossenheit herbeizuführen.
Darüber hinaus dient Trump der Ausnahmezustand auch zur Ablenkung. Gerade weil die konkrete Politik der Regierung unbeliebt ist, braucht es eine grobe Demonstration der Stärke. Gerade weil die Regierung weit von ihren anvisierten 3000 Abschiebungen pro Tag entfernt ist, müssen spektakuläre Bilder her. Beim aktuellen Eskalationstempo kann man eigentlich darauf wetten, dass Trump schon bald den Insurrection Act in Kraft setzt, ein extremes Gesetz von 1807, das es Soldat:innen erlaubt, direkt gegen Protestierende vorzugehen.
Am kommenden Wochenende werden in jedem Fall Panzer durch Washington D. C. rollen: Trump lässt zum 250-jährigen Bestehen der US-Armee eine Militärparade abhalten. Zugleich ist es sein 79. Geburtstag. Im ganzen Land sind Demonstrationen angekündigt.