US-Autoritarismus: «Die ICE ist der Stosstrupp von Trumps Regierung»

Nr. 25 –

Was in den USA geschieht, sei die neue Offensive einer langjährigen Gegenrevolution, sagt Columbia-Professor Bernard Harcourt. Ein Gespräch über Strategien der Aufstandsbekämpfung, ein Land auf dem Weg zum Polizeistaat und das Potenzial einer Revolte.

Diesen Artikel hören (15:12)
-15
+15
-15
/
+15
das Gesicht von Trump hinter einer Flagge der USA
Mit der Militärparade in Washington habe Trump versucht, «die Herzen und Köpfe» 
zu gewinnen, sagt Bernard Harcourt.
Foto: Nathan Howard, Reuters

WOZ: Bernard Harcourt, erst schickt Donald Trump die Armee zur Niederschlagung von Protesten gegen seine Einwanderungspolitik los, dann lässt er sich mit einer Militärparade feiern. Was erzählen uns diese beiden Episoden über den Zustand der USA?

Bernard Harcourt: Der Zustand des Landes ist mit Sicherheit düster und bedrohlich. Und die beiden Bilder sind ein perfekter Ausdruck dessen, was ich die moderne Konterrevolution nenne. Trumps Durchgreifen in Los Angeles entspricht klassischen Strategien der Aufstandsbekämpfung, wie sie in einer solchen zum Einsatz kommen. Entwickelt haben sie britische, französische und US-amerikanische Kommandeure im Kontext der Unabhängigkeitskriege in den ehemaligen Kolonien, in Algerien, Malaysia oder Vietnam. Später wurden die Strategien dann auf die eigenen Bürger:innen angewandt.

WOZ: Nach welchem Prinzip funktioniert diese Aufstandsbekämpfung?

Bernard Harcourt: Die zugrunde liegende Theorie beruht auf einer Gesellschaftsvision, wie sie Mao während der Kulturrevolution entwickelte. Demnach setzt sich eine Bevölkerung aus drei Teilen zusammen: aus einer Minderheit von Aufständischen, einer ebenfalls kleinen Gruppe von Personen, die sich dem Aufstand entgegenstellen, sowie einer passiven, unentschiedenen Masse. Um einen Aufstand zu bekämpfen, müssen erst die «internen Feind:innen» ausfindig gemacht und ausgeschaltet, dann die Herzen und Köpfe der restlichen Bevölkerung gewonnen werden.

Der kritische Theoretiker

Bernard E. Harcourt (62) ist Professor für Recht und politische Theorie an der New Yorker Columbia-Universität und der École des hautes études en sciences sociales in Paris. Sein Fokus liegt auf Praktiken des Bestrafens, auf kritischer Theorie und politischem Protest. Als Menschenrechtsanwalt vertritt er seit Jahrzehnten Todestraktinsass:innen.

Die Strategien der Aufstandsbekämpfung beschrieb Harcourt in «Gegenrevolution. Der Kampf der Regierungen gegen die eigenen Bürger», das 2019 auf Deutsch erschien. Sein neustes Buch, «Cooperation. A Political, Economic, and Social Theory» (2023), skizziert die Vision einer Gesellschaft, die auf Zusammenarbeit beruht.

 

Portraitfoto von Bernard E. Harcourt

WOZ: Mit dieser Theorie im Hinterkopf: Können Sie Trumps Vorgehen gegen die Proteste in Los Angeles skizzieren?

Bernard Harcourt: Er hat Menschen, die – grossmehrheitlich friedlich – gegen die unzumutbaren Exzesse der Einwanderungs- und Zollbehörde ICE protestieren, als «Tiere» oder «ausländische Eindringlinge» bezeichnet und sie dadurch als interne Feind:innen markiert, die es loszuwerden gilt. Die Militärparade in Washington wiederum steht für den Kampf um die Herzen und Köpfe. Die meisten Amerikaner:innen unterstützen das Militär, viele haben selbst gedient. Entsprechend herzerwärmend und patriotisch erscheinen ihnen die Bilder der Parade. Der Kampf um die Gunst der Leute lässt sich auch an einem anderen Beispiel illustrieren: Auf Social Media hat Trump zu weiteren Razzien in den Grossstädten des Landes aufgerufen. Damit versucht er, seine Wähler:innen zufriedenzustellen. Ich würde aber gerne noch auf eine andere Perspektive hinweisen: die juristische.

WOZ: Welches Bild ergibt sich durch die rechtliche Linse?

Bernard Harcourt: Trump hat 4000 Angehörige der Nationalgarde – eigentlich eine Miliz der Bundesstaaten – seinem Befehl unterstellt. Und mit den 700 Marines hat er die tatsächliche Armee nach L. A. geschickt. Juristisch betrachtet, ist dieses Vorgehen, gelinde gesagt, ziemlich fragwürdig. Dahinter steckt aber eine Strategie: Im Grunde erschafft sich der Präsident eine Art rechtliche Grauzone, deren Grenzen er anschliessend stetig ausweitet. Eine Methode, die Michel Foucault in einem anderen Zusammenhang «illegalisme» nannte: die Erschaffung eines Raums zwischen Legalität und Illegalität, in dem politische Auseinandersetzungen darüber entscheiden, was erlaubt ist und was nicht.

WOZ: Könnten Sie das genauer erklären?

Bernard Harcourt: Für Trumps Handeln gibt es immer eine rechtliche Grundlage, auch wenn sie meist recht dürftig ist. Nehmen wir noch einmal das Beispiel Los Angeles: Um die Nationalgarde dem Weissen Haus zu unterstellen, bezog er sich auf ein obskures Gesetz, das eigentlich für den Fall einer Invasion gedacht ist. Dabei hätte er sich für den Einsatz der Armee im Innern auch einfach auf den sogenannten Insurrection Act stützen können, der ihm die entsprechenden Vollmachten zur Bekämpfung eines Aufstands gegeben hätte. Es ist also nicht so, als würde er illegal handeln, einfach die Truppen losschicken und fertig. Stattdessen wendet er diese seltsame Bestimmung an, bei der sich alle fragen, ob sie überhaupt legal ist. Die Gerichte sind dann durch die verschiedenen Instanzen hindurch mit der Beantwortung der Frage beschäftigt. In dieser Grauzone findet Trumps gesamte Politik statt. So ein Versuch, die eigenen Handlungen zu legalisieren, ist viel stabiler als ein Ausnahmezustand ganz ohne Gesetze.

WOZ: Die Proteste in Los Angeles richten sich gegen das Vorgehen der ICE. Welche Rolle spielt sie in Trumps Machtsystem?

Bernard Harcourt: Sie ist der Stosstrupp des zweiten Trump-Kabinetts, die wohl aggressivste, skrupelloseste und gewalttätigste Elite. Und das nicht, weil ihre Mitglieder gut ausgebildet und diszipliniert wären, sondern weil es sich um eine kleine Gruppe extremer paramilitärischer Kräfte handelt. Sie tragen üblicherweise keine Uniform, verstecken sich hinter ihren Masken. Das Bedrohliche daran ist, dass man nie ganz sicher sein kann, ob die Person, die einen verhaftet, tatsächlich ein ICE-Agent ist oder sich nur als solcher ausgibt und in Wahrheit etwa den rechtsextremen Proud Boys angehört.

WOZ: Wie gehen die ICE-Beamt:innen bei ihrem Kampf gegen Migrant:innen vor?

Bernard Harcourt: Die Art der Festnahmen ist sogar nach US-Standards unüblich: Für gewöhnlich werden Leute nicht von der Polizei gekidnappt, sondern festgenommen und in deren gekennzeichnete Wagen gesteckt. Anschliessend wird man innert 24 Stunden einem Richter vorgeführt, der auch sicherstellt, dass man einen Anwalt bekommt; wer keinen hat, erhält einen zugewiesen. Nichts davon gilt im Zusammenhang mit Einwanderung: Es gibt keine Anklageverlesung, keine Vorladung vor den Richter, kein Recht auf einen Anwalt.

WOZ: Sie sind selbst als Anwalt tätig. Haben Sie ein solches Vorgehen auch schon persönlich erlebt?

Bernard Harcourt: Ich bin seit 35 Jahren Strafverteidiger, hauptsächlich von Menschen im Todestrakt. In allen Bereichen des Strafrechtssystems gibt es klare Regeln. Hier aber existiert nun kein ordentliches Verfahren, weil die betroffene Person oft bereits eine Ausweisungsverfügung erhalten oder keine Papiere hat und damit illegal im Land lebt. Und die ICE-Beamt:innen nutzen das aus. Kürzlich vertrat ich Nascimento Blair, einen jungen Mann aus Jamaika und ehemaligen Columbia-Studenten, der 2020 nach der Verbüssung einer Haftstrafe aus dem Gefängnis entlassen worden war. Eines Tages lud man Blair unter dem falschen Vorwand einer gewöhnlichen Kontrolle vor. Ich habe ihn begleitet. Als wir mit den ICE-Agent:innen im Raum waren, meinten sie, ich müsse draussen das Anwaltsformular ausfüllen. Als ich dann rausging, schlugen sie die Tür hinter mir zu – und das wars: Sie haben Blair festgenommen und nach Jamaika deportiert. Ein verdammter Betrug! Keine andere Organisation steht an der Front der Konterrevolution weiter vorne.

WOZ: Wenn die ICE an der Spitze der Konterrevolution steht: Wer befindet sich in den Reihen dahinter?

Bernard Harcourt: Das Herzstück ist das Oval Office: Präsident Trump, seine Berater:innen und Kabinettsmitglieder, die aber mit den unterschiedlichsten Behörden zusammenarbeiten. Nehmen wir den Angriff auf die Unis: Harvard hat zwar erfolgreich gegen das Aufnahmeverbot internationaler Studierender geklagt – es wurde per einstweiliger Verfügung vorerst aufgehoben. Dann aber versuchte Aussenminister Marco Rubio es über eine andere Schiene: Er kündigte an, chinesischen Studierenden die Visa zu entziehen, angeblich wegen des Risikos von Verbindungen zur Kommunistischen Partei. Dabei machen Studierende aus China die Hälfte aller internationalen Studierenden aus. Worum es also tatsächlich geht: Harvard als Quelle des Widerstands gegen die Konterrevolution zu zerstören. Das Weisse Haus nutzt jeweils unterschiedliche Hebel, um seine Projekte voranzutreiben. Gibt es an einer Stelle einen Stolperstein, kommt ein anderer Teil der Verwaltung zum Zug, mit einer anderen Befugnis, anderen rechtlichen Grundlagen.

WOZ: Sehen Sie auch historische Parallelen zu dem, was derzeit geschieht?

Bernard Harcourt: Wir befinden uns gerade in einer neuen Phase der Gegenrevolution. Aber auch schon in den Siebzigern wurden unliebsame Umtriebe mit den Methoden der Aufstandsbekämpfung niedergeschlagen, etwa die Proteste gegen den Vietnamkrieg. Der damalige FBI-Direktor J. Edgar Hoover ging äusserst hart gegen die «internen Feind:innen» vor – von den Feministinnen über die Kommunisten bis zu den Black Panthers. 1970 wurde die Nationalgarde zur Unterdrückung von Antikriegsprotesten an der Kent State University berufen – und erschoss dabei mehrere Studierende. Kurz darauf tötete die Polizei am Jackson State College in Mississippi zwei Personen. 1972 publizierte Herbert Marcuse dazu das Buch «Konterrevolution und Revolte»: Er sprach darin von einer präventiven Konterrevolution ohne vorangegangene Revolution.

WOZ: Wann hat aus Ihrer Sicht die aktuelle Phase der Konterrevolution begonnen?

Bernard Harcourt: Nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Erst wurden die entsprechenden Strategien im Irak und in Afghanistan erprobt, später schlugen sie sich auch in den USA selbst nieder. Der Einsatz von Folter im Ausland, die zeitlich unbegrenzte Haft in Guantánamo unter George W. Bush, die Drohnenangriffe unter Obama. Dann die totale Überwachung der Bevölkerung in den USA, die Edward Snowden aufdeckte: mit dem Ziel, die internen Feind:innen – muslimische Amerikaner:innen, Migrant:innen oder radikale Schwarze Protestierende – zu identifizieren. Anschliessend erhielt die Polizei eine paramilitärische Ausstattung, um gegen diese Menschen vorzugehen. Aufstandsbekämpfung als Regierungsform.

WOZ: Welche Elemente in Trumps zweiter Amtszeit sind neu?

Bernard Harcourt: Was wir derzeit erleben, ist die Abrissphase, gerichtet gegen den Staatsapparat: Sie greifen alle Formen der öffentlichen Verwaltung an, um den administrativen Staat zu zerstören – und ihn anschliessend durch einen Polizeistaat zu ersetzen. Bedienstete im staatlichen Bürokratieapparat werden entlassen, dafür wird in die polizeilichen Funktionen des Staates investiert: mehr ICE-Agent:innen, mehr Polizei, mehr Militär. Sie wollen das Budget für das Ministerium für Innere Sicherheit auf das Sechsfache erhöhen, 45 Milliarden Dollar sollen allein für neue Haftzentren ausgegeben werden. Das ist die dramatische Situation, in der wir uns derzeit befinden.

WOZ: Trumps unzählige Erlasse und Verfügungen der letzten Monate erscheinen zuweilen auch als gewaltige Ablenkungsstrategie. Welcher unterbelichtete Entscheid hat Sie am meisten schockiert?

Bernard Harcourt: Äusserst beunruhigend finde ich die Angriffe auf die Bürgerrechte, dass etwa das derzeit geltende Geburtsortprinzip bei der Staatsbürgerschaft abgeschafft werden soll. Hinzu kommen die Versuche, Personen mit dauerhaften Aufenthaltsbewilligungen auszuweisen. Es scheint, als würden sie jede:n aus dem Land werfen wollen, der oder die sich kritisch über die Regierung äussert. Die Meinungsfreiheit ist derzeit so stark unter Beschuss wie seit der McCarthy-Ära nicht mehr.

WOZ: Wogegen richtet sich die Konterrevolution eigentlich? Zuletzt war doch weit und breit keine Revolution in Sicht.

Bernard Harcourt: Ob es tatsächlich eine Revolution gab, ist eigentlich unerheblich; wichtiger ist, dass die Urheber der konservativen Konterrevolution das denken. Aus ihrer Perspektive liegt das Revolutionäre im gewachsenen Bewusstsein für die Notwendigkeit von Diversität in Bezug auf ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht oder Sexualität. Alles, was vom patriarchalen Bild des heterosexuellen, verheirateten Paars mit zwei Kindern abweicht, wird von ihnen als Abkehr von der Norm betrachtet. Das «again» in «Make America Great Again» verweist ja auf dieses Bild der traditionellen Kernfamilie aus den Fünfzigern, wo der Vater in seinem grossen amerikanischen Auto aus der Vorstadt zur Arbeit fährt und die Mutter mit den Kindern zu Hause bleibt. Was sie unter Revolution verstehen, ist der «Sturz» dieser traditionellen Familie.

WOZ: Am Wochenende sind unter dem Motto «Keine Könige» Millionen Menschen an über 2000 Orten gegen Trump auf die Strasse gegangen. Ist das der Beginn von etwas Hoffnungsvollem? Die von Marcuse beschriebene Revolte?

Bernard Harcourt: Ich denke schon. Die Art und Weise, wie die ICE Menschen von der Strasse weg verschleppt, hat viele im Land schockiert und empört. Diese polizeilichen Exzesse, die Brutalität könnten ein Thema sein, das die Leute vereint. Was wir am Wochenende gesehen haben, könnte deshalb der Beginn einer breiteren Protestbewegung sein, einer Revolte möglicherweise. Der Moment, in dem sich möglicherweise die Wende konkretisiert.