Plattformkapitalismus: Destruktive Milliardengräber
Der Finanzsektor überhäufte Tech-Start-ups mit Geld. Doch es zeigt sich immer mehr: Deren Geschäftsmodelle funktionieren nicht, stattdessen haben sie zu verheerenden Formen der Ausbeutung von Arbeiter:innen geführt.
Der Wirtschaft weht ein rauer Wind entgegen. Hohe Inflation, steigende Energiepreise, kollabierende Lieferketten und eine neu erwachte Arbeiter:innenbewegung bereiten vielen Konzernen zurzeit Probleme. Nun erreichen die Erschütterungen eine Branche, die noch vor kurzem als Hoffnungsträger des Kapitalismus galt: die Techbranche. In den vergangenen Wochen jagte eine katastrophale Headline die andere: Der deutsche Lieferdienst Gorillas entlässt 300 Angestellte aus der Verwaltung, der türkische Konkurrent Getir soll eine ganze Milliarde Euro Verlust machen und streicht weltweit 4500 Stellen, der schwedische Zahlungsdienst Klarna stellt zehn Prozent seiner Belegschaft vor die Tür, dazu kommen Massenkündigungen bei kleineren Start-ups in ganz Europa. Der Branchendienst Techcrunch meldete, dass weltweit 15 000 Stellen im Techsektor gestrichen worden seien – allein im Mai 2022.
Volle Kanne auf die Gewerkschaften
Die Kündigungswelle wirft ein Schlaglicht auf die zugrunde liegenden Probleme und Widersprüche des Tech-Start-up-Modells. Vor allem die Abhängigkeit von einfach verfügbarem Kapital wird der Branche nun zum Verhängnis. Die meisten Tech-Start-ups haben noch nie Gewinn gemacht, obwohl sie explosionsartig expandieren. Aufsehen erregt haben in der Wirtschaftspresse darum vor allem die Entlassungen beim Lieferdienst Gorillas. Denn der galt als das am schnellsten wachsende Start-up Europas. Erst 2020 in Berlin gegründet, konnte Gorillas mit seinem Versprechen, Lieferungen in weniger als zehn Minuten zu erledigen, von der Coronapandemie profitieren, als viele Menschen Lebensmittel nach Hause bestellten. Schnell beschäftigte das Unternehmen mehr als 10 000 Menschen. In allen grösseren deutschen Städten wurden die kleinen, dezentralen Lager und die Fahrer:innen mit ihren schwarzen Jacken und Rucksäcken mit dem auffälligen Logo über Nacht omnipräsent. Auf dem Kapitalmarkt war Gorillas’ Aufstieg noch rasanter: Bis heute hat das Start-up fast zwei Milliarden Euro Investitionskapital eingesammelt.
International Schlagzeilen machte Gorillas aber auch mit schlechten Arbeitsbedingungen – und den Kämpfen, die Fahrer:innen dagegen führten (siehe WOZ Nr. 42/2021 ). Bereits letztes Jahr entliess die Firma Hunderte Rider:innen, die für bessere Bedingungen gestreikt hatten und einen Betriebsrat gründen wollten. Das Management von Gorillas griff dabei zu allen dreckigen Mitteln aus der Werkzeugkiste des Union Busting, der gezielten Zerstörung gewerkschaftlicher Aktivitäten. Es spaltete sogar die Firma in einzelne Teile auf, um die Angestellten voneinander zu isolieren. Nun zieht sich Gorillas aus fast allen Märkten ausserhalb Deutschlands zurück und entlässt die Hälfte seines Verwaltungspersonals – das sich nicht mit den Streiks der Rider:innen solidarisiert hatte, nicht gewerkschaftlich organisiert und somit ungeschützt der Kündigung ausgesetzt ist.
Doch man hätte es kommen sehen können: Vor wenigen Tagen veröffentlichte der Branchendienst Sifted einen Bericht – basierend auf internen E-Mails und Gesprächen mit Angestellten von Gorillas –, der zeigt, dass die Firma monatlich neunzig Millionen Euro in den Sand setzt. Dazu soll von den 230 Lagern nur ein Viertel überhaupt profitabel sein. In einem veröffentlichten E-Mail beklagt CEO Kagan Sümer den «Kollaps des Kapitalmarkts im März». Über die vergangenen zwei Jahre seien «Billionen von Dollar in die Wirtschaft gepumpt worden», doch nun sei die Party vorbei, deswegen müsse Gorillas nun Stellen streichen. Die sonst wirtschaftsfreundliche «Zeit» bezeichnete Gorillas daraufhin als «Geldverbrennungsmaschine auf zwei Rädern».
Monopole fallen nach kurzer Zeit
Philipp Staab sieht das ganze Geschäftsmodell Tech-Start-up kritisch. Der Soziologe forscht an der Humboldt-Universität Berlin zur Zukunft der Arbeit. «Ich habe grosse Zweifel daran, dass man diese Firmen fair organisieren kann», sagt er im Gespräch. Denn diese Firmen bieten Dienstleistungen zu Preisen an, die völlig unrentabel sind. Das geht nur, weil sie so viel Kapital erhalten. Nicht einmal die tiefen Gehälter, die sie zahlen, gleichen das aus.
Als Reaktion auf die Finanzkrise von 2008 pumpten die Zentralbanken riesige Mengen an Kapital in den Markt und hielten die Zinsen tief. Dieses Geld musste irgendwohin. Ein Effekt war die Immobilienblase, die in grossen Städten die Mieten in die Höhe schiessen liess. Ein anderer war das Aufkommen von angeblich innovativen Unternehmen, die jahrelang keinen Gewinn schreiben mussten, weil ja immer noch mehr Geld vorhanden war, um die Löcher zu stopfen.
Doch nun gehen die Zentralbanken gegen die hohe Inflation vor. Die Zeit des billigen Geldes scheint vorbei. «Wenn man das abzieht, steigen die Preise so sehr, dass niemand mehr diese Dienstleistungen kaufen würde.» Als Beispiel nennt er Uber. Der Fahrdienstleister schreibt Verluste im Milliardenbereich. Um diese wettzumachen, erhöht Uber sofort die Preise, wenn es Konkurrenten vom Markt verdrängt hat. Wo es nur eine schlechte ÖV-Infrastruktur gibt wie in vielen Städten der USA, wird Uber danach sogar teurer, als es Taxis davor gewesen waren – womit ein Hauptgrund für seine Beliebtheit sofort wegfällt.
«In diesem Bereich sind in alle Firmen dieselben Investoren verwickelt», sagt Staab. Etwa Softbank aus Japan. Die investiert auf der ganzen Welt in Techfirmen, so auch in praktisch alle europäischen Lieferdienste. Solche Investoren drängen dann Firmen dazu, sich aus einzelnen Märkten zurückzuziehen, um sich nicht gegenseitig Konkurrenz zu machen. So entstehen regionale Monopole, und die Preise können stark erhöht werden. Doch das funktioniert nur kurzfristig: «In Berlin hat ein bestimmtes Start-up ein halbes Jahr lang ein Monopol, aber das ganze überschüssige Kapital auf den Weltmärkten, das sich vorbörslich reproduzieren will, sorgte dafür, dass sehr schnell ein weiterer Anbieter mit seinen fetten Kriegskassen reinrennt.» So drängt immer ein neuer Konkurrent auf den Markt, der die Preise tief hält.
Keine Scheinselbstständigkeit
«Das kann nur funktionieren, wenn man bei den Arbeitskosten Dumping betreibt», sagt Philipp Staab. Das habe wenig mit technologischer Innovation zu tun, aber viel mit Tricks, um bestehende Regeln zum Arbeitsschutz zu umgehen. Viele Start-ups behaupteten einfach, dass ihre Angestellten selbstständig seien, sodass sie selber Sozialabgaben zahlen müssten und einfacher zu entlassen seien. Mittlerweile haben vielerorts Gerichte entschieden, dass das unzulässige Scheinselbstständigkeit ist – wie letzte Woche auch in der Schweiz.
So sind die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen und neue Formen von Ausbeutung, Überwachung und Kontrolle von Arbeiter:innen der grösste Effekt, den diese Start-ups bisher auf Gesellschaften der industrialisierten Länder hatten. «Wir brauchen viel stärkere Arbeitsschutzgesetze und stärkere Rechte für Gewerkschaften», fordert darum Yonatan Miller. Der Softwareentwickler ist Mitgründer des Berliner Ablegers der Tech Workers Coalition, einer Vereinigung von Angestellten im Technologiesektor, die sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzt. Staatliche Institutionen und Gewerkschaften müssten neue Strategien entwickeln, um Arbeiter:innen zu schützen, und zwar sowohl jene oben in der Einkommenspyramide wie auch prekär Beschäftigte, die überwiegend einen migrantischen Hintergrund aufweisen. Dass die traditionellen deutschen Gewerkschaften die Gorillas-Rider:innen kaum unterstützten, weil diese oft kein Deutsch sprechen oder nur für wenige Jahre im Land sind, kritisiert Miller als kurzsichtig.
Vor wenigen Tagen hat Miller einen Workshop für Hunderte Entlassene von Klarna gegeben, um sie über ihre Rechte zu informieren. Auch der schwedische Internetbezahldienst hat mehrere Milliarden auf dem Kapitalmarkt eingesammelt – und letztes Jahr 630 Millionen Euro Verlust gemacht. «Die reichsten Menschen der Welt haben in den letzten Wochen zusammen 500 Milliarden Dollar Investitionskapital verloren», sagt Miller, «und wir Arbeitenden dürfen das jetzt ausbaden.»
Aber diesmal sei es anders. Langsam merkten selbst hochbezahlte Programmierer:innen, dass sie als Einzelkämpfer:innen in der Branche nicht überleben könnten, indem sie einfach zum nächsten Start-up wechselten. Sie hätten angefangen, sich zu solidarisieren. «Ich habe in den letzten sieben Jahren bei fünf Firmen gearbeitet», sagt Miller, «da merkt man mit der Zeit, dass die Probleme nicht beim Unternehmen liegen, sondern strukturell zur Branche gehören.»