Literatur: Von der Würde der Tiere

Nr. 27 –

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Buchcover von «Für kurze Zeit nur hier»
María Ospina Pizano: «Für kurze Zeit nur hier». Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag. Zürich 2025. 197 Seiten.

Menschen spielen im feinsinnigen Debütroman der kolumbianischen Kulturwissenschaftlerin María Ospina Pizano durchwegs die Nebenrollen. «Für kurze Zeit nur hier» stellt den Alltag unterschiedlichster Tiere – Insekten, Vögel, Hunde – ins Zentrum. Pizano schreibt detailgenau und empathisch aus der Perspektive der (oft geschundenen) Kreaturen. Der Roman beginnt und endet mit der Geschichte zweier herrenloser oder ausgesetzter Hündinnen im Armenviertel von Bogotá, dazu gesellen sich Episoden über einen ordinären Käfer, der als Amselmahlzeit endet, oder über ein Stachelschweinbaby, das mit menschlicher Muttermilch gesäugt wird, ehe es bei der Umweltbehörde der kolumbianischen Hauptstadt Unterschlupf findet.

Am meisten klingt die Geschichte über Zugvögel nach, die jährlich von der Ostküste der USA ins kolumbianische Hochland fliegen, bedroht vom Licht der Zivilisation, von der Auszehrung im tagelangen Flug über den Ozean, von Gewitterstürmen. Pizano wählt als Protagonisten ein Prachtexemplar des Scharlachkardinals, und die Lektüre folgt gespannt seinem Flug. Nach der Kollision mit einer dicken Glasscheibe fällt er in Bogotá auf einen Balkon. Dessen Besitzerin kümmert sich um ihn und erklärt später ihrer Geliebten, «dass Zugvögel sie so begeistern, weil sie bei ihrem Auf und Ab und Hin und Her den Unterschied zwischen Himmel und Erde verwischen und die unterschiedlichsten Plätze der Welt als Unterschlupf wählen. […] Als Gäste des Himmels, in dem man sich nirgendwo verstecken kann, kümmern sie sich nicht um die Grenzen, die sich die Menschen in ihrer Niedertracht ausgedacht haben.»

Einfühlsam und mit poetisch geschmeidiger Sprache vergegenwärtigt Pizano den Reichtum organischen Lebens auf dem ganzen Kontinent. Dabei masst sie sich nie an, wirklich zu wissen, wie und was diese so verschiedenen Lebewesen empfinden und wahrnehmen. Die Autorin und ihre Figuren bewegen sich stets im Modus des Fragens und Vermutens, sie akzeptieren sokratisch ihre Wissenslücken. Eine Trouvaille dieses Literaturfrühlings!