Kino: Die Authentizität der Gefühle

Nr. 28 –

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Filmstill aus «Ghostlight»
«Ghostlight». Regie: Kelly O’Sullivan und Alex Thompson. USA 2024. Jetzt im Kino.

Dan (Keith Kupferer) habe ausgesehen, als wäre er gerne für eine Weile jemand anderes. Deshalb, sagt die Schauspielerin Rita (Dolly de Leon) zum melancholischen Bauarbeiter, habe sie ihn auf der Strasse angehalten, doch bei ihrer Amateurtheatergruppe vorzusprechen. Aber Dan wäre eigentlich ganz gerne er selbst: Ehemann von Sharon und Vater der beiden Teenager Daisy und Brian. Bloss dass sich Brian das Leben genommen hat und es Dan nicht gelingt, seine Trauer richtig zu empfinden oder auch nur auszusprechen. Stattdessen läuft er, wie dies von Gefühlen überforderte Männer oft tun, davon. Oder er tickt aus. Zu seiner eigenen Überraschung nimmt Dan Ritas Einladung an.

Sind die Gefühle im Theater authentischer als im Kino? Die der Schauspieler:innen echter als jene der Zuschauer:innen, die sich in den Nöten der Figuren wiedererkennen? Und wie «spielt» man einen Kuss? Immerhin kommt es nicht selten vor, dass die Darsteller:innen fiktiver Liebespaare auch in Wirklichkeit zusammenkommen. Und umgekehrt: Kann man die Trauer über den Suizid eines Kindes verarbeiten, indem man dessen Gefühle im Spiel nachempfindet? Wo liegt die Grenze zwischen echtem und falschem Gefühl – und weshalb fühlt sich noch immer kaum etwas so wahr an wie das Werk von Shakespeare?

«Ghostlight» ist eigentlich zu konstruiert, um realistisch zu sein. Zu eindeutig spiegelt sich der Plot von «Romeo und Julia» – dem Stück, bei dem Dan schliesslich die männliche Hauptrolle übernehmen wird – im Trauma von Dans Familie, dem Suizid eines traurig verliebten Teenagers. Doch wie das Theater braucht auch das Kino keinen Realismus, um authentische Gefühle herzustellen und auf das Publikum zu übertragen. Dazu reichen überzeugende Schauspieler:innen, die im besten Fall Shakespeare aufführen. Der Zweck des antiken Theaters war die Katharsis: die Verarbeitung oder «Reinigung» von echten Gefühlen durch das Erleben von falschen. Kino und Theater, Wahrheit und Spiel, echte und falsche Tränen: Rosen duften, wie Julia zu Romeo sagt, unter jedem anderen Namen genauso süss.