Liebeserklärung ans «Weyerli»: Die subversive Kraft des Chillens

Nr. 29 –

Was gibt es Schöneres, als den Sommer in der Badi zu verbringen? Genau, nichts. Warum das Nichtstun auch politisch ist, lässt sich im grössten Freibad der Schweiz erleben.

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Foto vom Freibad «Weyerli» in Bern
Wahrgewordener Albtraum des Kapitalismus: Das «Weyerli» in Bern. Foto: Enrique Muñoz García

«Ga iz Weyerli ga chille, weni Zit ha»
Yangboy$, «Weni Zit ha» (2016)

Das Blau, es ist schier endlos. Bei einem Blick vom Nichtschwimmerufer aus kommen Erinnerungen an die Karibik hoch, so hell, fast durchsichtig, schimmert hier das knöcheltiefe Wasser, bevor es mit zunehmender Tiefe dunkler wird. Wer die Augen schliesst, hört das Rauschen der Wellen, die an den Beckenrand des grössten Freibadpools der Schweiz schwappen. Seine Form verspottet jedes Bedürfnis nach Symmetrie: Mal eckig, meist gebogen und stets unübersichtlich umfasst er 16 000 Quadratmeter. Die Augen im Halbschlaf wieder geschlossen, salzige Lippen, vielleicht doch das Meer? Nein, nur die Pommes, deren Fritteusengeruch sich mit dem des Chlors, des nassen Asphalts und der Sonnencreme zum köstlichen Duft des Sommers mischt.

Bern West an einem Samstag im Sommer: Wer noch nicht im Weyerli ist, wie das Freibad Weyermannshaus genannt wird, ist auf dem Weg dahin. Manche fahren mit Autos oder Velos vor, andere kommen per Tram oder Zug und schleppen sich die letzten Meter zu Fuss über den Asphalt. Familien und Gruppen führen Leiterwagen mit dem halben Hausrat mit: Campingstühle, Schirme, Kühlboxen, Wassermelonen, Pfannen, Spielzeug. Endlich angekommen, das Blau schon in Sichtweite, geht es direkt durch das offene Tor, denn der Eintritt ins Weyerli kostet nichts.


Was anderswo als kommunistische Utopie verlacht wird, ist in Bern unumstrittene Normalität: Mit einer Ausnahme sind die Freibäder gratis, denn wieso sollten Erholung und Abkühlung ein Privileg jener sein, die es sich leisten können? Tatsächlich kann man sich auf einem Streifzug durchs Weyerli gewisser Assoziationen an eine klassenlose Gesellschaft nicht erwehren. Auch hinsichtlich Körperformen, Alter oder Bekleidungsstilen ist die Breite der Gesellschaft abgebildet. Frauen in Burkinis baden neben Tangaträgerinnen, Kinder springen neben alten Menschen ins Wasser, von denen einige aussehen, als sonnten sie seit Jahrzehnten ununterbrochen im Weyerli.

Menschen erzählen, schreien, streiten und scherzen auf Türkisch, Russisch, Berndeutsch, Französisch, Italienisch, Serbisch. Nirgendwo in der Stadt ist der Ausländer:innenanteil so hoch wie hier, ist die Bevölkerung so durchmischt wie in Berns Westen. Im Zusammenspiel mit den Gebäuden aus den Fünfzigern, eingerahmt von Hochhäusern, Autobahnbrücke und Bahnlinie, vermittelt die Badi zudem eine Anmutung von Sowjetästhetik.

Die Badi, sie ist die Antithese zum von Hecken abgeschirmten Privatgarten mit Pool. Hier wird in Hör-, Sicht- und Riechweite der anderen geschwitzt, geraucht, gelacht und gegessen. Menschen sitzen und liegen auf mitgebrachten Stühlen und reden, über alles. Das geteilte Ertragen der Hitze, das gemeinsame Abkühlen im selben Wasser, Zentimeter voneinander entfernt – es schafft im besten Fall ein Gefühl der Verbundenheit. Man vertraut wildfremden Menschen, wenn man ins Wasser möchte und die Nachbar:innen fragt: «Chönntiter uf mini Täsche luege?»


Die Nähe, sie schafft auch potenzielle Konflikte, das ist klar. Wie sich auf das Buch zur Selbstfindung konzentrieren, wenn einen alle paar Minuten ein Ball im Gesicht trifft? Die Badi lehrt, Rücksicht zu nehmen, das Gespräch zu suchen – oder seine Sachen zu packen und sich einen anderen Platz zu suchen. Dafür, dass an heissen Sommertagen mehr als 10 000 Menschen das Weyerli besuchen, ist es ein erstaunlich friedlicher, wenn auch nicht ganz herrschaftsfreier Ort: Am Beckenrand patrouillieren Menschen in hellgrünen T-Shirts mit der Aufschrift «Aufsicht». Um tatsächlich Law and Order durchzusetzen, sind sie aber viel zu wenige. Darum: Wer in den abgetrennten Fünfzigmeterbahnen ernsthaft zu schwimmen versucht, braucht Mut. Die stete Gefahr, von einer «Arschbombe» getroffen zu werden, die vereinzelten Fälle von Selbstjustiz: Die Szene im Schwimmer:innenbereich ist wohl in etwa das, was sich Bürgerliche unter Anarchie vorstellen.


Über all den Gesetzlosen und Gesetzeshüter:innen aber herrscht eigentlich eine viel transzendentere Figur: die Frauenstimme, die durch die überall im Bad angebrachten Lautsprecher schallt. «Bitte mit Schwimmflügeli zurück hinter die Abschrankung, Schwimmhilfen gehören in den Nichtschwimmerbereich. Danke.»

Die Mitteilungen gleichen sich, und doch auch nicht. Sie holen einen in die Realität jener, die da angesprochen werden, und nur die, die gerade in einen wahrhaft packenden Roman vertieft sind, reisst die Stimme nicht aus dem Moment. Sowieso, das Lesen – vielleicht liest es sich nirgendwo so gut wie hier. Trotz oder gerade wegen der Geräuschkulisse. Hier kommen selbst die am stärksten vom neoliberalen Produktionseifer getriebenen Geister zur Ruhe, um sich eben so einer Lektüre hinzugeben. Oder einem Schläfchen zu unorthodoxer Zeit. Niemand muss hier produktiv sein, niemand konsumieren: der wahrgewordene Albtraum des Kapitalismus, vielleicht echte Subversion. Was für die, die den Sommer nicht lieben, zur Last wird, ist für die anderen ein Geschenk: An einem heissen Sommertag ist das Draussensein, das Geniessen, das Nichtstun in der Badi etwas, das getan werden muss. Das Chillen im Weyerli: Es ist keine Option, sondern eine Notwendigkeit.