Arbeiterstrandbad Tennwil: Sonne, Wasser und Zeit

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Klimafreundlicher Luxus – das könnte zum Beispiel heissen, das Glück in der Nähe zu finden. Eine linke Institution im Aargau machts vor. Seit 88 Jahren.

Nein, sagt Brigitta Mazzocco. An einem sonnigen Sommertag sehe man nicht auf den ersten Blick, dass das Arbeiterstrandbad Tennwil im Aargauer Seetal etwas Besonderes sei. «Aber ein Teil der Leute kommt schon bewusst hierher. Auch wenn es die anderen nicht merken.»

Kurz vor Weihnachten tritt der Hallwilersee über die Ufer. Die Rutschbahn des Arbeiterstrandbads steht halb im Wasser. Es windet, der See verschwimmt im Nebel. Aber im leeren Badirestaurant ist es zum Glück warm; im oberen Stock wohnt der Betriebsleiter. Zwischen Chupa-Chups-Regal und Kaffeemaschine erzählen Brigitta (70) und Renato Mazzocco (65) von der letzten Badi der Schweiz, die die Arbeiter:innengeschichte hochhält. Eine Stiftung führt das Bad. Er ist Kassier, sie Präsidentin der Kulturkommission, die Lesungen, Ausstellungen und Konzerte organisiert. Wer sich im Stiftungsrat engagieren will, muss der SP, einer Gewerkschaft, dem proletarischen Turnverband Satus oder den Naturfreunden angehören, der linken Alternative zu den bürgerlichen Wander- und Alpenklubs. Für die beiden ist das kein Entweder-oder: Brigitta arbeitete bis zu ihrer Pensionierung beim VPOD, Renato beim Aargauischen Gewerkschaftsbund, beide sind in der SP und bei den Naturfreunden Aarau aktiv.

Übernachten am See

Das Arbeiterstrandbad geht auf die Initiative des Aargauer SP-Oberrichters Fritz Baumann zurück. Im Sommer 1935 wurde es mit Küche, Kiosk, WCs und Duschen eröffnet – obwohl Bürgerliche über den «unnötigen Luxus» schimpften. «Wir werden keinen unserer Besucher nach seiner politischen Einstellung fragen», versprach ein Artikel im «Freien Aargauer». «Aber der Geist, der im Arbeiterstrandbad regiert, wird ein sozialistischer sein.»

Brigitta Mazzocco ist mit dem Arbeiterstrandbad aufgewachsen. Ihre Mutter war 1935 neunzehnjährig schon bei der Gründung dabei. «Die meisten kamen mit dem Velo von Aarau, Lenzburg oder Baden – weit Velo fahren war damals normal.» Manche übernachteten am Sonntag in der Badi und radelten am Montagmorgen direkt zur Arbeit. Renato, der als Kleinkind aus Italien in die Schweiz kam, bezeichnet sich als «eingeheiratet»: Früher besuchte er den Hallwilersee nur sporadisch. Aber auch er wuchs in einem Arbeiter:innenhaushalt auf und war selbstverständlich beim Satus Suhr, obwohl ihn der Bürgerturnverein Aarau abwerben wollte. Er war ein guter Läufer. Mit den beiden inzwischen erwachsenen Kindern haben Mazzoccos ganze Sommer in Tennwil verbracht. Heute hätten sie sich aufgeteilt, sagt Renato. «Brigitta schwimmt, ich liege.»

In den achtziger Jahren gab es Diskussionen, ob man das Bad umbenennen solle. «Das Arbeiterzeug galt als passé», erinnert sich Renato. Heute sei das Bewusstsein zum Glück wieder grösser, sagt Brigitta. Aber wenn sich jemand für einen der begehrten Wohnwagenstellplätze bewerbe, sei die Politik nicht das einzige Kriterium. «Sonst hätten wir hier nur noch pensionierte Gewerkschafter. Wir wollen aber auch junge Familien.»

Anders als manche städtischen Bäder kann das Arbeiterstrandbad Tennwil keinen Gratiseintritt anbieten – es bekommt keine Beiträge der öffentlichen Hand. Trotzdem ist es ein gutes Beispiel für öffentlichen Luxus. Um ein gutes Leben für alle zu ermöglichen, braucht es auch Projekte der Selbstorganisation, nicht nur den Staat. Die Frage ist unumgänglich: Wie lässt sich mit einem viel tieferen Ressourcenverbrauch Glück ermöglichen? Also mit viel kürzeren Wegen? Wer während der Pandemie privilegiert war und Zugang zu Zeit und Raum hatte, konnte erleben, dass die Welt auch in der Nachbarschaft ganz weit werden konnte, gerade weil das dauernde Herumfahren wegfiel. Wasser und Sonne können zum Glück in der Nähe beitragen – und, das hat die Arbeiter:innenbewegung richtig erkannt, auch Sport, solange er vergnügt bleibt.

Jedes Jahr ein Solifest

Das Arbeiterstrandbad ist nicht die einzige Pionierinstitution am Hallwilersee: Im Gründungsjahr der Badi wurden seine Ufer vor Verbauung geschützt. Wenige Schweizer Seen kann man so schön zu Fuss umrunden. Und für alle, die keine Duschen, Pommes und Chupa Chups brauchen, gibt es auch einfache, kostenlose Badestellen mit Leitern und Bänken.

SP-Kopräsident Cédric Wermuth sitzt im Stiftungsrat des Arbeiterstrandbads. Er hatte die Idee des Solidaritätsfests, das seit 2018 stattfindet, letzten Sommer mit Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (siehe WOZ Nr. 26/23) «Jede Tradition muss irgendwann anfangen», sagt Renato Mazzocco. Eine andere Tradition geht zu Ende: Das Arbeiterstrandbad braucht einen gendergerechten Namen. «Die Umsetzung ist im Gang.»

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Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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