Wichtig zu wissen: Mount Woke
Ruedi Widmer über die unkontrollierbare Macht der Liebe

Ich verweile in diesen zöllernen Tagen in einem Haus mit Blick auf den majestätischen Mont Ventoux. Dieser 1909 Meter hohe, die ganze Provence dominierende Berg ist nicht nur für den Radsport und insbesondere den Schweizer (Ferdy Kübler 1955, Zusammenbruch; Fabian Cancellara 2010, Etappensieg) wichtig, sondern ist auch – und das zelebriert er ganz besonders, wenn er sich lavendelig violettlich in der Abendsonne färbt – die Wiege der modernen europäischen Geistesgeschichte, die zurzeit Arm in Arm mit Donald Trump ihrem Ende entgegentorkelt.
1336 bestieg nämlich der italienische Dichter Francesco Petrarca den Mont Ventoux und schrieb 1350 einen Bericht darüber. Darin widmet er sich der Landschaft und beschreibt seine Natur- und Selbsterfahrung. Trotz allerhand religiöser Gefühle, die ihn in der Mondlandschaft auf dem höchsten Punkt beschlichen, ist diese Grenzerfahrung derart epochal, dass sie kulturhistorisch als Beginn der Renaissance gilt. Denn damals war es weder üblich, auf Berge zu steigen, noch, eine innere Wahrnehmung zu haben, und schon gar nicht, sich darüber zu äussern. Man kann, vereinfachend und mit einem Glas Rotwein in der Hand, getrost sagen, dass hier auch der Wokeismus begann.
Vorher war es doch so: Ein Stuhl ist ein Stuhl, ein Tisch ein Tisch. Der König ist der König, und der Himmel ist Gott. Diese schematische und starre mittelalterliche Weltwahrnehmung wurde für die folgenden Jahrhunderte aufgeweicht im Wasser des Lebens. Die geistige Entwicklung, die schliesslich in der Aufklärung gipfelte, bewertete Stuhl und Tisch neu, denn beide können ganz unterschiedlich wahrgenommen werden. Der subjektive Blick des Individuums, wie wir ihn heute kennen, begann auf dem Mont Ventoux. Also unter anderem.
Eine Landschaft beschreiben und ihre Farben, sie überhaupt erkennen und Freude darüber im Herzen spüren, das können Herrscher wie Donald Trump, Benjamin Netanjahu, Ajatollah Chamenei oder Wladimir Putin nicht. Sie haben das nie gelernt und gespürt, weil sie nie woke waren. Das, was diese Schlächter der Menschheit nämlich woke finden, ist das, was sie nicht kontrollieren können. Die Macht unserer Gefühle, die Macht der Liebe; Dinge, die die allermeisten Menschen auf der Welt spüren, egal ob Christen, Jüdinnen oder Muslime. Bei manchen ist sie nur unterdrückt oder abgewürgt, aber im Keim da. Abgewürgt von weiteren Leuten, die nicht woke sind oder waren.
Was Trump alles woke findet, war nämlich bis vor wenigen Jahren völlig unverdächtig und allgemein Usus. Deshalb verwende ich dieses von vielen so gehasste Wort auch so schamlos. Rücksicht, Ehrlichkeit, Anstand, Hilfsbereitschaft, Aufrichtigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Empathie, Kompromissbereitschaft – alles Errungenschaften, die letztlich vom Mont Ventoux auf die Menschheit herunterkugelten (wie früher schon einmal vom Berg Sinai).
Nun, hoffe ich, erkennen auch die Schematiker:innen der bürgerlichen Parteien, was sie uns mit ihrer Bewunderung für diesen verrückten US-Präsidenten eingebrockt haben. Denn jetzt geht es nicht mehr «nur» um das Wegsperren von «illegalen» Menschen, sexuellen Missbrauch, die Unterdrückung der nichtoligarchischen Wissenschaft und die Verächtlichmachung der Demokratie, sondern ums Geld. Das verstehen alle. Vom Lehrling bis zum Dettling.
Zahl ist Zahl. Ganz unwoke.
Bundesrätin Keller-Sutter hat mit ihrer Fehleinschätzung ungewollt eine epochale Diskussion eröffnet. Wollen wir selbstbewusste Schweizer:innen sein oder SVP-treue Höseler, die sich von den vorsintflutlichen Launen dieser Imperialisten unterjochen lassen? Wollen wir uns mit anderen Woken, nämlich der Europäischen Union, verbünden, oder mit Otterngezücht, um dieses alte, Luther zugeschriebene Wort wieder einmal zu verwenden?
Ruedi Widmer lebt knallhart und kompromisslos in Winterthur.