Kost und Logis: Feines im Freilandlabor
Bettina Dyttrich isst im Nationalpark

Im Juli war ich das erste Mal im Nationalpark wandern. In welchem Nationalpark? Das wäre in fast jedem anderen Land die nächste Frage. Aber die Schweiz hat ja nur einen, von bürgerlichen Männern vor 111 Jahren gegründet nach dem Vorbild der grossen Wildnisgebiete Nordamerikas.
Im Nationalpark werden die Wege unterhalten, aber sonst gilt: Bäume fallen um, Hänge rutschen, Tiere vermehren sich. Es ist verboten, Wege und offizielle Rastplätze zu verlassen. Wer im hinteren Val Cluozza steht, kann sich tatsächlich wie in den Rocky Mountains fühlen, sieht nirgends eine Spur menschlicher Nutzung, nur Bergföhrenwald, schroffe Gipfel und viel Geröll. Und die Chance, über der Waldgrenze Tiere anzutreffen, ist gross: ein ganzes Hirschrudel, ein paar Steinböcke und Gämsen, junge Murmeltiere, die sich direkt neben dem Wanderweg balgen.
Wie in den Rocky Mountains fühlen sich wohl auch die vielen Töff- und Porsche-Fahrer:innen auf der Ofenpassstrasse, zumindest für eine halbe Stunde oder so: links und rechts riesige, wilde Nadelwälder. Die Strasse ist der grösste Widerspruch des Nationalparks, aber nicht der einzige: Der Spöl ist ein mit Schadstoffen verseuchter Restwasserfluss, der bald aufwendig ausgebaggert wird. Und der Totalschutz führt zu hohen Wildbeständen und darum zu Wiesen, die teils wie übernutzte Schafweiden aussehen. Wer Blumenvielfalt sucht, findet sie eher ausserhalb des Parks. Der Nationalpark mit seinen Regeln hat etwas hochgradig Künstliches, irgendwo zwischen Freilandlabor, Zoo und Andachtsort. Ein Ort, wo viel Forschung betrieben wird, wo Wander:innen ohne viel Aufwand Tiere beobachten und mit einer gewissen Ehrfurcht natürliche Prozesse verstehen lernen können. Gut, dass es ihn gibt.
Erfreulich sind auch die beiden Gastrobetriebe im Park: das Hotel Il Fuorn und die Cluozza-Hütte. Das Hotel kocht nach Slow-Food-Grundsätzen, bezieht einen grossen Teil der Lebensmittel aus dem nahen Val Müstair, es gibt hier ausgezeichnete selbstgemachte Gnocchi und andere Pasta, auch vegan. Aber auch Fleischgerichte – die deutlich mehr kosten, sinnvollerweise. Auch in der Cluozza-Hütte steht die regionale Küche im Vordergrund, zum Beispiel bei den wunderbaren Apéroplättli aus Engadiner Bioprodukten, die man selbst zusammenstellen kann. Um Transportflüge zu reduzieren, ist das Getränkeangebot beschränkt, und in Zernez steht ein Kühlschrank, damit Wander:innen einen Teil des Essens zur Hütte tragen helfen. Das Trinkwasser ist knapp und hat deshalb einen Preis – der junge Gast, der der Hüttencrew Geiz vorwirft, hat das leider nicht verstanden.
Vielleicht könnte die Hütte da noch radikaler werden. Sie wäre ein guter Ort, um Ressourcenknappheit offensiv zu thematisieren. Als pädagogisches Angebot, als Vorbereitung auf eine Zukunft, in der nicht mehr alles so selbstverständlich «available» ist, wie es der junge Gast gewohnt ist.
Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin und hat immer mehr Wanderungen geplant, als sie tatsächlich machen kann.