Literatur: Wo das Scheitern beginnt

Nr. 35 –

Ein Lehrstück: Christoph Hein schildert in «Das Narrenschiff» anhand von fünf Hauptfiguren nüchtern und präzis, warum der Aufbau einer neuen Gesellschaft in der DDR nicht gelingen konnte.

Diesen Artikel hören (8:31)
-15
+15
-15
/
+15

45 Jahre deckt das neue Buch von Christoph Hein ab, von 1945 bis 1990, so lange wie die deutsche Ostzone beziehungsweise die DDR existiert hat. Ist das jetzt also der «grosse DDR-Roman», der seit längerem gefordert, erhofft, befürchtet wurde?

Vorerst einmal ist «Das Narrenschiff» kein – womöglich autobiografisch unterlegter – Bericht über die Literatur- und Kulturszene, die Hein doch mitgeprägt hat. Die Geschichte der DDR wird anhand von fünf Hauptfiguren nachgezeichnet. Zwei davon stammen aus dem ökonomischen Bereich: der Bergbauingenieur Johannes Goretzka und der Ökonomieprofessor Karsten Emser. Dazu kommen der Germanist und Anglist Benaja Kuckuck sowie die beiden Frauen Yvonne Goretzka und Rita Emser, die sich in der Staats- und Kulturbürokratie hocharbeiten. Ja, politische Überwachung und kulturpolitische Verengungen kommen vor, aber es geht ursächlich um die DDR als ökonomisch scheiternden Staat, mit entsprechenden gesellschaftlichen Konsequenzen.

Moderate Aufstiegschancen

Hein erzählt scheinbar gleichmütig, wie dieses Scheitern zustande kam. Man kann von diesem Roman kein stilistisches Feuerwerk erwarten. Die Prosa ist funktional. Der historische Hintergrund wird auktorial knapp skizziert. Zumeist aber wird die Geschichte sinnfällig an den Lebensläufen dreier Generationen erzählt. Da ist, mit Jahrgang 1901, der altgediente Genosse der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), Karsten Emser, der 1933 als kommunistischer Kader nach Moskau in eine prekäre Sicherheit gebracht wird und dann mit anderen KPD-Führungskräften nach Berlin zurückkehrt. Der gleichaltrige jüdische Literaturwissenschaftler Benaja Kuckuck flüchtete ins englische Exil, trat dort der Auslands-KPD bei und siedelte nach dem Krieg wegen mangelnder Berufsaussichten im Westen nach Ostdeutschland über. Johannes Goretzka, zwei Jahre jünger, war einst überzeugter Nazi, Feldwebel in der Wehrmacht, kann sich aber nach 1945 in Ostdeutschland wegen seiner beruflichen Fähigkeiten geschmeidig anpassen.

Emser und Goretzka sind mit jüngeren Frauen verheiratet, die die Gründung der DDR 1949 als 25-Jährige erleben. Da sie historisch nicht so belastet sind wie die Männer, bietet die DDR Rita Emser und Yvonne Goretzka als ehemaligen kaufmännischen Angestellten moderate Aufstiegschancen. Knapper wird die dritte Generation beschrieben, Kathinka Lebinski, Jahrgang 1944, Yvonne Goretzkas Tochter aus erster Ehe, und Heinrich Goretzka, 1949, der Sohn von Yvonne und Johannes, sowie Rudolf Kaczmarek, 1941, langjähriger Partner von Kuckuck. Für sie kann die «Abwicklung» der DDR 1990 ebenso Auf- wie Abstieg bedeuten.

Man muss die Figuren in ihren Handlungen zeigen, nicht in ihrer Psychologie, hat Bertolt Brecht einst fürs epische Theater gefordert. Hein orientiert sich daran. Zwar äussern sich seine Figuren in vielen Dialogen, ohne Zugeständnis an naturalistische Färbungen allerdings. Denn auch die direkte Rede dient vorrangig der Schilderung von Handlungen, selten von Motiven. Psychologische Zerfaserungen sucht man vergeblich.

Keine wendigen Jasager

Das zentrale Stichwort ist: Anpassung. Das klassische Beispiel liefert Goretzka, der vom Faschisten zum unbelehrbaren Stalinisten wird. Aber auch Karsten Emser, als Mitglied des Zentralkomitees (ZK) wegen seiner vorsichtigen Opposition zusehends marginalisiert, trägt «schweigend und zähneknirschend» die offizielle Politik mit. Erst spät stellt er sich seiner historischen Schuld, da er während des Stalinismus in Moskau nichts zum Schutz gefährdeter Freunde unternommen hatte. Kuckuck seinerseits wird als «Referatsleiter Kinder- und Jugendfilme der Hauptverwaltung Film» abgeschoben, was er gekränkt, aber ohnmächtig ertragen muss.

Für die schleichende Anpassung an die desillusionierende Gegenwart ist «Opportunismus» nicht das richtige Wort. Weder Karsten Emser noch Kuckuck sind wendige Jasager, sondern sie wollen sich Integrität bewahren, ohne doch die Mittel zu finden, sich zu wehren. Goretzka seinerseits bleibt von der einmal gefundenen Sache überzeugt. Als er vorübergehend für wirtschaftspolitische Ideen degradiert wird, die später rehabilitiert werden, bleibt es doch sein Ehrgeiz, verbittert, aber stramm fürs Wohl von Partei und Volk zu arbeiten.

Yvonne Goretzka gelingt eine Emanzipation, sowohl beruflich wie privat. Dass ihr Mann Johannes seine Nazivergangenheit vertuscht, schockiert sie nicht, sondern sie legitimiert damit ihren persönlichen Ausbruch. Angesichts der von Beginn an als «Versicherungsehe» angelegten Verbindung mit Johannes organisiert sie sich gelegentlich Liebhaber. Diese Emanzipation setzt sich freilich nicht ins Politische fort, wo sie, umgänglich im Stil, starr die Parteilinie umsetzt.

Die Ausgangsbedingungen für die Ostzone beziehungsweise die DDR waren schwierig, ein Grossteil ihrer Industrieanlagen wurde als Reparationsleistungen in die Sowjetunion abtransportiert, während Westdeutschland durch den US-amerikanischen Marshallplan im Kalten Krieg aufgebaut wurde. Die durch rigide wirtschaftspolitische Massnahmen ausgelösten Unruhen vom Juni 1953 und deren Unterdrückung unterminieren die Legitimität des Regimes und verstärken die wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Um die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu dämpfen, werden Investitionen zugunsten kurzfristiger Konsumgüterproduktion zurückgestellt, was die marode Infrastruktur weiter belastet. Politische Fehlentscheide laufen dazu parallel. 1961, mit dem Bau der Mauer, entsteht bei vielen die ethisch zwiespältige Hoffnung, durch die Abschottung gegen aussen sei im Innern eine Liberalisierung möglich. Die wird schon 1965 einkassiert, und auch der tschechische Aufbruch 1968 ist schnell erstickt.

Fahle Ideale

Im Verlauf der DDR-Entwicklung wird manches Ideal verraten. Statt zur Demokratie am Arbeitsplatz führt die Planwirtschaft die Arbeiter:innenklasse in die Entpolitisierung. Wohn- und Sozialpolitik werden zum Klientelwesen für Nomenklatur und Parteimitglieder. Der Bedarf an Devisen unterminiert zusehends die Versorgung der Bevölkerung. Trotz rechtlicher Enttabuisierung muss Kuckuck seine Homosexualität weiter verbergen; von der direkten politischen Repression ganz zu schweigen.

Dieses umfangreiche, rasant zu lesende Buch ist ein Lehrstück, wie der Aufbau einer neuen Gesellschaft nicht funktionieren kann. Wie fahl die damaligen Hoffnungen alle wirken. Die DDR ist vor einem Dritteljahrhundert vergangen. Natürlich, das damals von bürgerlicher Seite triumphierend verkündete Ende der Geschichte ist ebenfalls längst widerrufen und die Friedensdividende aufgebraucht. Aber selbst die positiven Errungenschaften der DDR wirken kompromittiert. Vollbeschäftigung: zu welchen ökonomischen und menschlichen Kosten? Emanzipation der Frauen: mit welchen weiter bestehenden Schranken im Alltag? Internationale Solidarität: mehr als Lippenbekenntnisse? Gleissende Kulturszene: durch welche Anpassungen?

Wahrlich, zwischen gescheiterter Erziehungsdiktatur und verheerender neoliberaler, mittlerweile sozialdemokratisch abgesicherter Entsolidarisierung führt der Weg in steiniges Gelände.

Buchcover von «Das Narrenschiff»
Christoph Hein: «Das Narrenschiff». Roman. Suhrkamp Verlag. Berlin 2025. 752 Seiten.