Wie ich es sehe: Mad Max
Stefan Gärtner über Holz, Ekstase und Identität

Kurt Tucholsky ist ja nicht alt geworden, aber er hatte rechtzeitig seine letzten Gedanken notiert, deren einer lautete: «Ich habe es nicht so richtig verstanden.» Nun werden mich zwar nur härteste Fans für den Kurt Tucholsky des 21. Jahrhunderts halten, aber verstehen tue ich gleichfalls immer weniger, was so weit geht, dass ich zu glauben beginne, ich fahre mal dümmer ins Grab, als ich die Mutter einst verlassen habe.
Mit dieser Ahnung ausgerüstet, verliere ich den Ehrgeiz, alles wissen zu müssen, und wenn die «Berner Zeitung» mir mit den «wichtigsten Fakten zu Muni Max» kommt, einem hausgrossen Holzochsen, der das Esaf, das Eidgenössische Swinger- und Autoerotikfest, bereichern soll, dann gehört auch das zu den vielen Undurchschaubarkeiten, die das weite Erdenrund prägen. «Wo steht Muni Max?», fragt die Zeitung stellvertretend, und die Antwort ist: «Auf dem Festgelände des Esaf, auf dem Flugplatz von Mollis. Gleich neben dem Muni befindet sich der Gabentempel.» Das liegt jetzt natürlich an meiner bundesdeutschen Sozialisation, dass sich das für mich wie ein chinesischer oder slowenischer Satz anhört, wozu man wissen muss, dass ich weder die eine noch die andere Sprache spreche, und es wird auch nicht besser, wenn ichs mir in meinen eigenen Worten hinschreibe: In Mollis steht der Muni Max neben dem Gabentempel.
Es ist ein zugleich irritierendes und beruhigendes Gefühl, dass eine halbe Tagesreise südlich Leute wohnen, für die dieser Satz einen Sinn ergibt, und ehe ich mir durch Googeln alles verderbe, freue ich mich an der Vorstellung, der Muni (oder auch «Mad») Max diene einem Tanz um das hölzerne Kalb, der sich von dem ums goldene schon durch den Aspekt der Nachhaltigkeit unterscheidet. Auch wenn «noch nicht geklärt» ist, was mit den 182 Tonnen Holz geschehen wird, wenn die Swinger und Swingerinnen, nun ja, wieder eingepackt haben. «Der Muni ist auf eine Lebensdauer von 25 Jahren ausgelegt. Es haben sich bereits mehrere Interessenten gemeldet», sagt der Projektleiter, und das ist gut, ist doch das Schweizer Rindvieh aus Fleisch und Blut auf eine Lebensdauer von allenfalls fünf Jahren ausgelegt, es sei denn, es ist in der SVP, die, als leidenschaftliche Holzkopfpartei, das viele Holz aber auch nicht braucht, schon weil Holz letztlich nicht Beton und also woker Unsinn ist.
«Wer hat Muni Max realisiert?», und spätestens jetzt tönt der ganze Artikel so, als sei er in der Pressestelle der Holzwirtschaft zusammengeleimt worden: «Rund 220 Unternehmen aus der Schweiz waren am Bau beteiligt, darunter über 500 Lernende. Der Muni besteht zu 100 Prozent aus Schweizer Holz. ‹Das Projekt verfolgt das Ziel, die Zusammenarbeit der Branchen zu fördern, Traditionen zu bewahren und die Berufsbilder der Wald- und Holzwirtschaft sichtbarer zu machen›, schreibt Schreinersicht.ch», was als hervorragender Name für eine einschlägige Website gelten darf.
«Wie ich es sehe» ist ja ein klassisch blöder und hoffentlich noch nicht völlig ausgestorbener Kolumnentitel, und tatsächlich sind 182 Tonnen aus PR-Gründen umgehauener Schweizer Baum ein triftiger Grund, die Perspektive unserer Holzverarbeitungsfachleute zu übernehmen, damit wir nicht auf die Laienidee kommen, jeder ordinäre Dachstuhl mache das Berufsbild viel besser sichtbar, weil Monsterkühe aus Holz praktisch nie benötigt werden.
Aber was weiss denn ich; ich weiss ja nicht mal, dass das Schwingerfest mit Sexualität gar nichts zu tun hat, falls es nicht ebenfalls um Nähe, Ekstase, Geborgenheit geht, wenn die «nationale Identität» im Spiel ist. Ein schöner Zufall ist es da, dass der Holz-Molli aus Munis in seiner kubistischen Kantigkeit und hemmungslosen, selbstbezüglichen Grösse unserem allzeit aggressiven Autodesign ähnelt, dessen Beitrag zur Identitätsbildung zu verstehen dann freilich nicht so schwierig ist.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.