Filmfestival Venedig: Männer im Ausnahmezustand

Nr. 36 –

Der Wettbewerb in Venedig geht mit Stars auf Nummer sicher – ein Film grätschte dann doch dazwischen.

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Jude Law als Wladimir Putin? Klar, wurde «The Wizard of the Kremlin», Olivier Assayas’ Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers von Giuliano da Empoli, heiss erwartet. Der Film erzählt von Putins Aufstieg aus Sicht eines fiktiven Beraters (gespielt von Paul Dano). Doch alle Perücken und schlecht sitzenden Anzüge, alle gegenwärtigen Kommentare à la «Du sollst keine Geschichten mehr erfinden, sondern die Wirklichkeit!» und auch das prominente Ensemble können den Film nicht retten. «The Wizard of the Kremlin» ist so uninspiriert inszeniert, dass er zeitweise wie ein filmischer Wikipedia-Artikel wirkt, der mit Stereotypen jongliert.

Auf Nummer sicher

Aber der Film passt gut in diesen Wettbewerb der kriselnden Männer an den 82. Filmfestspielen in Venedig, wo 21 Filme um den Goldenen Löwen buhlen. Das fing schon im Eröffnungsfilm an, beim Politiker in Paolo Sorrentinos «La Grazia», der von der internationalen Kritik wohlwollend aufgenommen wurde. Alles andere als leicht hat es auch der von Oscar Isaac gespielte Victor Frankenstein in Guillermo del Toros Adaption von Mary Shelleys Klassiker. Sein selbst zusammengezimmerter Nachwuchs (Jacob Elordi) steigt ihm hier aufs Dach und schlachtet dabei Bootsleute, Adlige, Wölfe und mehr ab. Del Toros «Frankenstein» arbeitet sich mit allem, was man bei diesem Regisseur erwartet, an der Frage ab, wer hier bitte das wirkliche Monster ist: mit einer auf Märchen gebürsteten, zwischen melodramatischem Overkill und rüder Brutalität changierenden Geschichte in überdekorierten Bildwelten.

Der Eindruck, der sich nach dem ersten Wochenende einstellt angesichts der von Stars bevölkerten Wettbewerbsauswahl: Das Festival und sein künstlerischer Leiter Alberto Barbera gehen, abgesehen von ein paar mutigen Ausreissern, filmisch auf Nummer sicher, während die Welt draussen aus den Fugen ist. Das Festival scheint vor allem darauf bedacht, seinem Ruf als Startrampe für die Oscars gerecht zu werden.

Ein Höhepunkt im bisherigen Wettbewerb ist «No Other Choice» von Park Chan-wook. Auch hier ein Mann im Ausnahmezustand: Als seine geliebte Papierfabrik ihn rauswirft, begibt sich ein Angestellter auf einen systematischen Tötungsfeldzug gegen die potenziellen Konkurrenten für seinen neuen Job. Mit grosser Kunstfertigkeit erzählend, gelingt dem koreanischen Regisseur mit seinem produktiv mäandernden Film eine absurde Allegorie auf die gekränkte Männlichkeit eines Familienvaters, doppelbödig, mal zum Schreien komisch, mal knallhart.

Und die Frauen?

Mit Mona Fastvolds «The Testament of Ann Lee» ist dann endlich auch ein Film in den Wettbewerb gegrätscht, der formal radikale Wege geht. Fastvold erzählt von Ann Lee, der Gründerin der freikirchlichen Shaker-Bewegung, in einem wunderbar analog fotografierten, historischen Musicaldrama. Zentral ist darin der Soundtrack von Daniel Blumberg («The Brutalist»), der Gospel, Choräle und Pop vermählt – ein düsterer filmischer Rausch über eine aus Trauer und Schmerz geborene spirituelle Gemeinschaft und ihre messianische Führerin (Amanda Seyfried), der in seiner Introspektion auch über gegenwärtigen Fundamentalismus nachdenkt.

Ein Geheimnis des Festivals wird bleiben, warum «After the Hunt», der kontrovers diskutierte neue Film von Luca Guadagnino, nur ausser Konkurrenz läuft. Mit einem gut aufgelegten Ensemble um Julia Roberts dekliniert der Italiener in seinem dialogintensiven Thriller die Ambivalenzen eines #MeToo-Falls an einer Eliteuni durch. Als toxische Frau in einer Machtposition hätte Roberts’ Figur gut in den männerlastigen Wettbewerb gepasst.