Deutsche Migrationspolitik: Brückenschmerzen an der Neisse
Die neue Bundesregierung hat an der deutsch-polnischen Grenze eine teils martialische Show in Gang gesetzt. Zu Besuch in der Zwillingsstadt Guben-Gubin.

Träge fliesst die Neisse dahin, auf der Brücke über den Grenzfluss ist kaum Verkehr, die Stadt döst in der Mittagssonne. Doch die Idylle wird vom Anblick bewaffneter und in Camouflage gekleideter Angehöriger der «Polish Border Guard» gestört. Zum für die kleine Neissebrücke recht einschüchternden Aufgebot gehören auch mehrere Polizist:innen, die sich an einem Mittwoch Anfang September, an dem die Sonne noch mal richtig aufdreht, dort herumdrücken. Ihre Fahrzeuge mit der Aufschrift «Policja» haben sie gut sichtbar auf dem Mittelstreifen abgestellt.
Sie beäugen die wenigen Fussgänger:innen und Autos, die zu dieser Tageszeit die Brücke passieren, um von einem Stadtteil in den anderen zu gelangen: Westlich des Flusses liegt die deutsche Kleinstadt Guben mit etwa 16 000 Einwohner:innen, jenseits der Brücke das polnische Gubin mit der nahezu gleichen Bevölkerungszahl. Einst war die Zwillingsstadt bekannt für ihren Obstanbau und ihre Hutindustrie – der wetterfeste Wollfilzhut wurde hier erfunden und in die ganze Welt exportiert. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs trennt eine Grenze Guben und Gubin, die seit den neunziger Jahren aber immer unsichtbarer geworden ist. Dass hier nun bewaffnete Grenzpolizist:innen, unterstützt vom Militär, patrouillieren, ist die vielleicht sichtbarste Veränderung, seit im Frühjahr in Deutschland eine neue Regierung ihre Arbeit aufgenommen hat.
Patrouillen auf beiden Seiten
Ein paar Kilometer entfernt, auf deutscher Seite, sitzt in einem Garten zwischen Steinofen und alten Bäumen Juliane Lehmann. Sie lebt seit 2018 mit ihrer Familie in Guben und arbeitet im nahen Cottbus als Lehrerin an einem Oberstufenzentrum. «Auf emotionaler Ebene ist das schon schlimm», sagt sie. «Für uns ist es völlig normal, im Alltag die Grenze zu überqueren. Wir gehen mit den Kindern nach Gubin zur Eisdiele. Oder zum Spielplatz. Der liegt direkt hinter einer der kleineren Fussgängerbrücken. Und da stehen jetzt Leute mit Gewehren rum.»
Bevor im Juli der Grenzschutz und Soldat:innen nach Gubin kamen, waren an den Brückenübergängen Menschen in gelben Westen aufgetaucht. Lehmann zeigt ein Video, das ein Bekannter von ihr von einer solchen Patrouille aufgenommen hat. Die «Bewegung zur Verteidigung der Grenze» – eine Art Bürgerwehr, angeführt vom Warschauer Rechtsextremen Robert Bąkiewicz – war aktiv geworden, nachdem wiederum die deutsche Bundesregierung im Mai verkündet hatte, künftig auch Asylsuchende an den deutschen Grenzen abzuweisen. Ein Gericht in Berlin hat diese Zurückweisungen im Juni zwar als europarechtswidrig verurteilt. Aber die Praxis setzt sich bis heute fort, auch wenn nicht durchgängig Kontrollen stattfinden. An diesem Septembertag etwa ist die Bundespolizei, der deutsche Grenzschutz, nicht an der Gubener Neissebrücke aufgestellt.
Anfang Juli kam es auf der Brücke zu einem Vorfall, der versinnbildlicht, für wen die Brutalisierung auf beiden Seiten der Grenze zuvorderst Folgen hat: Ein Achtzehnjähriger aus Afghanistan wurde beim Versuch, auf die deutsche Seite zu gelangen, von Bundespolizist:innen zurückgewiesen. Daraufhin drängte eine Gruppe der polnischen «Bürgerwehr» ihn zweimal zurück über die Neissebrücke. Eine von den Deutschen gerufene polnische Grenzpatrouille schaute zu und griff nicht ein. «Die haben ihn hin- und hergeschubst», fasst es Juliane Lehmann zusammen und schüttelt den Kopf. Schliesslich fuhr die deutsche Bundespolizei den jungen Mann zu einem anderen, unbewachten Übergang in Bad Muskau und schickte ihn zurück nach Polen.
Wenige Tage später beschloss Polen umfassende Grenzkontrollen und schickte das Militär nach Gubin und an weitere Grenzübergänge – insgesamt 5000 Soldat:innen. Polens Regierung bezeichnete den Schritt als Reaktion auf die forcierten Zurückweisungen der Deutschen. Inzwischen hat sie angekündigt, die Kontrollen bis Anfang Oktober zu verlängern.
Auch wenn die Situation an der Grenze in den vergangenen Monaten sichtbar eskaliert ist, infrage gestellt wird deren Durchlässigkeit schon seit einigen Jahren. Während der Coronapandemie wurde die Grenze scharf bewacht. Und auch die sozialdemokratisch geführte deutsche Ampelregierung liess hier immer wieder Menschen kontrollieren und zurückweisen, verstärkt ab 2023. Neu ist, dass die Regierung von Friedrich Merz ausdrücklich auch Asylsuchende abweisen lässt, ohne dass sie ein Schutzgesuch stellen können – laut Innenministerium ist das seit Mai 660-mal geschehen.
Auch das Wechselspiel zwischen rechten «Bürgerwehren» und den Behörden kennt man in Guben-Gubin bereits – und es ist kein rein polnisches Phänomen. Juliane Lehmann erinnert sich, wie die deutsche Neonazipartei Dritter Weg 2021 mobilisierte, um in den anliegenden Wäldern Grenzübertritte von Geflüchteten zu verhindern. «Es stellte sich später heraus, dass sie sich bewaffnet hatten mit Macheten, Baseballschlägern und so weiter. Zum Glück ist nichts passiert», erzählt sie. Eine Gruppe engagierter Menschen aus Guben und von ausserhalb organisierte damals eine Mahnwache, um die Geflüchteten zu schützen. Nicht wenige befürworten allerdings – auf beiden Seiten – eine Bewachung der Grenze, in Guben hat die AfD sehr hohe Zustimmungswerte.
Die Grenze ist also schon lange Thema in der Stadt. Auch in den anliegenden Wäldern lässt sie sich kaum vergessen: Überall liegen Klamotten herum, die Geflüchtete zurückgelassen haben. Denn wegen der immer strengeren Bewachung schwimmen diese nun öfter durch die Neisse, um nach Deutschland zu gelangen.
Grenz- oder Brückenstadt?
Andererseits bemühen sich viele Menschen auf beiden Seiten der Grenze darum, diese zu überwinden. Einer von ihnen ist Gottfried Hain. Der 69-Jährige kam zu DDR-Zeiten als Jugendlicher nach Guben, um eine Lehre als Chemiefacharbeiter zu absolvieren. Später schulte er auf Krankenpflege um, baute nach der Wende das Sozialamt im Landkreis Guben auf und war von 1994 bis 2002 Bürgermeister der Stadt, zunächst parteilos, später als Mitglied der SPD, aus der er 2017 allerdings wieder austrat.
Hain gehört der kleinen baptistischen Gemeinde an. In deren Kirche erzählt er, wie er in den neunziger Jahren mit seinem polnischen Amtskollegen von der Gubiner Seite, Czesław Fiedorowicz, am Zusammenwachsen arbeitete – daran, aus der Randlage «eine Brückenlage» zu machen, wie er sagt. Eines der ersten grösseren binationalen Projekte der Zwillingsstadt war neben der Europaschule in Guben ein gemeinsames Klärwerk in Gubin. Mitte der neunziger Jahre brauchte Guben eine Anlage, die EU-Standards erfüllt, Gubin noch nicht. Die Widerstände waren auf beiden Seiten gross: zu teuer, fürchteten die einen, zu viele Arbeitsplätze für die polnische Seite die anderen. Gebaut wurde trotzdem. Für Hain zeigt das Klärwerk exemplarisch, wie es hier mitunter läuft mit der deutsch-polnischen Zusammenarbeit: erst mal Skepsis, bei Erfolg dann Selbstverständlichkeit.
Besonders seit Polens EU-Beitritt 2004 und dem Beitritt zum Schengen-Raum 2007 wurde die Grenze immer unbedeutender – eigentlich ebenfalls eine Erfolgsgeschichte: Es ist heute leicht möglich, überzusiedeln. Polnische Patient:innen können sich seit 2013 auf deutscher Seite ambulant behandeln lassen, ihre Krankenkasse übernimmt das. Es gibt Jugendaustausche, das gemeinsame Gubener-Gubiner Frühlingsfest, grenzübergreifende Bürger:innendialoge. Juliane Lehmann sieht zwar eine gewisse Asymmetrie, nicht nur wegen der unterschiedlichen Löhne und Preise. «Von deutscher Seite gibt es da manchmal eine Überheblichkeit.» Auf der polnischen Seite sprächen etwa mehr Menschen Deutsch als umgekehrt. «Hier bewegt sich fast kein Mensch, um mal Polnisch zu lernen.» Doch auch für sie gehört das grenzübergreifende Zusammenleben selbstverständlich dazu.
Nichtsdestotrotz scheint nun auch der martialische Auftritt an den Übergängen fast schon wieder normal zu werden. Viele Anwohner:innen haben sich laut Juliane Lehmann und Gottfried Hain nach einigen Wochen daran gewöhnt. Der jetzige Gubener Bürgermeister, Fred Mahro von der CDU, versuche, so Hain, «eben aus der Situation, die uns von oben beschert wird, das Beste zu machen». Die grossen Linien in der Migrationspolitik werden nicht in Guben und Gubin, sondern in Berlin und Warschau vorgegeben. Dass sich Menschen entlang der Grenze die Städte teilen, mag dabei im Bewusstsein der Politiker:innen nicht immer derart präsent sein, wie es hier Alltag ist.
Wende zur Härte
Anfang September veröffentlicht das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Zahlen für im Vormonat gestellte Asylanträge: Sie sind innert eines Jahres um sechzig Prozent gesunken. Die Regierung in Berlin sieht das als «Erfolg» ihrer neuen harten Linie, der sogenannten Asylwende. Auch wenn zweifelhaft ist, inwiefern der Rückgang der Asylanträge mit den Grenzkontrollen zusammenhängt – erstmals seit vielen Jahren liegt etwa Syrien nicht mehr auf Platz eins der Herkunftsländer, was vor allem am Sturz des Assad-Regimes liegen dürfte –, werden Merz und sein Kabinett den eingeschlagenen Weg wohl weitergehen.
Was das für die Grenze, für Guben-Gubin und jene Brücken, die beide Teile der Stadt verbinden, bedeutet, wie lange die Grenzpolizist:innen und Soldat:innen hier noch bleiben, ob sie irgendwann wieder abgezogen werden oder aber ihre Zahl aufgestockt wird – all das lässt sich an diesem dösigen Mittwoch im September noch nicht ermessen. Doch dass die Grenze nicht nur für die Geflüchteten, die sie übertreten wollen, sondern auch die Bewohner:innen der Stadt jederzeit wieder ins Bewusstsein treten kann, haben die letzten Monate gezeigt. Bis sie irgendwann vielleicht einmal gänzlich in Vergessenheit gerät, wird noch viel Wasser die Neisse hinunterfliessen.