Inmitten von Grenzen: Finden Sie alle dreissig Enklaven?
Im Zehntausend-Seelen-Dorf Baarle verläuft die belgisch-niederländische Grenze mitten durch die Strasse und quer durch Wohnhäuser. Mit kuriosen Folgen.
Vor einigen Jahren strandete ein serbischer Lkw-Fahrer im Grenzdorf Baarle. Da er von dessen Besonderheiten noch nie gehört hatte, wusste der gute Mann nach einem Tag hinterm Steuer mit den scheinbar wirren Anweisungen seines GPS-Geräts nichts anzufangen. Ständig schickte es ihn von Belgien in die Niederlande und wieder zurück. Nachdem er völlig die Orientierung verloren hatte, beschloss er, auf einem nahen Parkplatz zu übernachten und sich diesen Ort näher anzusehen.
Was er vorfand, überstieg seine Vorstellungskraft: Durch ganz Baarle ziehen sich Reihen weisser Kreuze als Bodenmarkierungen, auf deren einer Seite die Buchstaben «NL» stehen, auf der anderen «B». Eigentlich gibt es das Dorf mit rund 10 000 Menschen zweimal: das niederländische Baarle-Nassau mit etwa 7000 Einwohner:innen und das belgische Baarle-Hertog mit etwa 3000 Einwohner:innen. Die Grenze zwischen beiden verläuft oft nicht nur mitten auf der Strasse, sondern auch quer durch Wohnhäuser und Zimmer, Gärten, Restaurants oder Geschäfte.
Puzzle für Fortgeschrittene
Der Grund dafür: Beide Baarles fügen sich zu einem Flickenteppich aus 30 Enklaven zusammen. 22 davon sind belgische auf niederländischem Grundgebiet, die zusammen Baarle-Hertog bilden. Innerhalb dieser gibt es 8 niederländische Unterenklaven, die ihrerseits zu Baarle-Nassau gehören. Eine weltweit einzigartige Konstellation oder, wie es die Website visitbaarle.com nennt, «ein geografisches Puzzle für Fortgeschrittene».
Seinen Ursprung hat das Puzzle in einem Gebietskonflikt im späten 12. Jahrhundert: Der Herzog von Brabant, auf den die Bezeichnung «Hertog» zurückgeht, und der Graf von Holland, der die Nassau-Seite verkörperte, stritten um Ländereien der Baronie Breda. Lange bevor die Niederlande und Belgien existierten, hatte die Ortschaft Baarle dadurch zwei Verwaltungseinheiten, wobei die heutigen Enklaven ursprünglich auf feudale Parzellen zurückgehen.
Der Westfälische Friede spaltete die Niederlande 1648 in die unabhängige Republik und den südlichen, weiter zu Spanien gehörenden Teil. Die Grenze verlief kreuz und quer durch Baarle. Nachdem Belgien 1830 unabhängig geworden war, fand man die Konstellation vor Ort derart unübersichtlich, dass der exakte Grenzverlauf um Baarle herum erst 1974, jener der Enklaven gar erst 1995 gezogen wurde.
Belgische Gebiete im Dorf Baarle
Dem ahnungslosen Trucker fiel das Ergebnis dieser Situation zunächst dadurch auf, dass gerade eine Fussball-EM stattfand, aber nur in gewissen Teilen – nämlich jenen, die zu Nassau, also zum für die EM qualifizierten Belgien gehörten – entsprechend dekoriert war. Auch erfuhr er, dass Häuser beiderseits der Grenze jenem Land zugehören, auf dessen Seite die Tür liegt, niederländische Feuerwerksfreund:innen sich trotz Verkaufsverbot in ihrem Land im belgischen Teil Baarles einzudecken pflegen oder Zecher:innen einst die frühere niederländische Sperrstunde ein paar Schritte weiter in Belgien umgehen konnten.
Zu den Kuriositäten der selbsternannten «Welthauptstadt der Enklaven» gehörten auch unterschiedliche Covid-Regeln auf kleinstem Raum während der Pandemie oder, vor etwa zehn Jahren, das Interesse der israelischen Regierung, die das «Modell Baarle» als mögliches Vorbild studierte. In puncto Verwaltung existieren in beiden Dorfteilen unabhängige Kommunen, die einen vollständigen öffentlichen Dienst zur Verfügung stellen, also etwa Müllabfuhr oder die Anbindung an die Verkehrsnetze der Niederlande und Belgiens beziehungsweise der Region Flandern.
Attraktion für Tourist:innen
Zugleich arbeiten beide Kommunen auf Gebieten wie Infrastruktur (Strassen oder Kanalisation), Kultur, Tourismus oder Feuerwehr zusammen. Ab 1998 war dafür das «Gemeinschaftsorgan Baarle» (GOB) zuständig, das rechtsgültige Beschlüsse fällen konnte. 2021 wurde dieses durch die «Benelux-Gruppierung für Territoriale Zusammenarbeit Baarle» (BGTS) ersetzt. Als «Enklavenrat» tagen die Gemeinderät:innen regelmässig zusammen, auch die kommunalen Dezernent:innen beider Seiten tagen gemeinsam.
Die einzigartige Situation verschaffte Baarle nicht nur internationale Medienberichte, sondern hat auch einen Enklaventourismus in Gang gebracht. So gibt es weitaus mehr Geschäfte und Gastronomie als in vergleichbar kleinen Orten. Der lokale Einzelhandel bietet einen «Enklaven-Geschenkgutschein» an, es gibt eine «Enklaven-Wanderung» oder ein Suchspiel, bei dem es alle 30 Gebiete zu finden gilt. Weil dies knapp die Hälfte aller 64 Enklaven weltweit sind, jubelt das gemeinsame Besucher:innenzentrum: «Wir sind der Champion!»
Die Fotografin Laila Sieber wurde auf den Ort Baarle aufmerksam, als sie sich für eine Recherche in Belgien befand und auf der Karte die Grenzverläufe des Landes studierte. Sie beschäftigt sich in ihren Arbeiten immer wieder mit Grenzen, meist mit solchen, die für viele Menschen schwer zu überwinden sind – wie etwa die europäische Aussengrenze. Als sie die zerstückelten Grenzen von Baarle sah, wurde sie neugierig: Wie fühlt sich eine Grenze an, die mitten durchs eigene Haus geht? Wird sie überhaupt wahrgenommen? Und was bedeutet es für den Alltag der Bewohner:innen? Mit diesen Fragen reiste sie nach Baarle, sprach mit den Einwohner:innen und fing ihr Leben inmitten von Grenzen ein. Die Beschreibungen zu den Fotos stammen von Sieber.