Literatur: Verfolgte Muttersprache
Einfach «ë» heisst der Debütroman von Jehona Kicaj, die 1991 im Kosovo geboren wurde und als Kind nach Deutschland kam. Dieser ansonsten seltene Buchstabe kommt im Albanischen häufig vor. Es ist die Muttersprache der Autorin – und die Sprache, die nach der Aufhebung der Autonomie des Kosovo im Jahr 1989 durch den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević dort verboten wurde. Die Kosovo-Albaner:innen gründeten damals ihre eigenen Schulen in der Illegalität, rebellierten aber immer offener gegen ihre Unterdrückung.
Den blutigen Konflikt, der in den Kosovokrieg von 1999 mündete, erlebte Jehona Kicaj nicht mehr vor Ort, aber in ihrem autofiktionalen Roman erzählt sie vom Trauma, das er für ihre Familie bedeutete. Die Ich-Erzählerin spürt die Trauer der Mutter um den verschwundenen Grossvater, sieht Fotos von niedergebrannten Häusern, hört von Massakern an den Landsleuten. Wenn die Familie in den Kosovo reist, wird sie an der Grenze von serbischen Beamten schikaniert. In der Grundschule leidet sie unter dem Gefühl, einer verpönten Kultur anzugehören. Mit aller Kraft – und indem sie intensiv die Mundbewegungen der TV-Sprecher studiert – trainiert sie sich ihren Akzent ab, den sie beim Deutschsprechen hat. Noch einmal soll die Lehrerin nicht über ihr rollendes R lachen! Sprachliche Missverständnisse erlebt das Mädchen nicht nur mit Scham, sondern als drohende Auslöschung seiner Existenz.
Unterdessen ist Jehona Kicaj Literaturwissenschaftlerin und Autorin. Ihr Roman «ë» steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Sie schildert so spannend wie berührend, wie viel eine solch allgemein bewunderte Integration ein Kind kosten kann. Die Ich-Erzählerin hat sich jahrelang so heftig auf die Zähne gebissen, dass diese beschädigt sind. Gegen die verspannten Kiefergelenke verordnet der Zahnarzt eine Beissschiene. Aber die Ich-Erzählerin kennt die Ursache der Verspannungen: «Ich zermahle jedes einzelne Wort, bevor ich spreche.»