Lyrik: Aber die Feier der Poesie bleibt

Nr. 40 –

Die eigenen Gedichte vortragen, auch wenn manche danach zurück an die Front müssen. Ein persönlicher Bericht vom 16. internationalen Lyriktreffen in der Ukraine.

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Paul-Celan-Denkmal in Czernowitz
Paul-Celan-Denkmal in Czernowitz. Der Dichter der «Todesfuge» wurde hier geboren. Foto: Imago

«My tut schob jiti» (Wir sind hier, um zu leben), lese ich auf dem Plakat. Ich bin im Südwesten der Ukraine, in der ehemaligen multikulturellen österreichischen Stadt Czernowitz (Tscherniwzi), habe gerade das Hotel Bukowina verlassen, um über die alte Hauptstrasse Richtung Literaturzentrum Paul Celan zu spazieren. Hier findet an diesem Septemberwochenende zum 16. Mal in Folge trotz Krieg und der «grossen Invasion» das internationale Lyriktreffen «Meridian Czernowitz» statt. Ich darf als Lyrikerin mit meinen Gedichten die Schweiz vertreten.

Das Denkmal für den berühmten Dichter Paul Celan, der hier lebte, ist wuchtig, doch das Plakat der ukrainischen Streitkräfte fesselt mich noch mehr: Es sieht mit seinen warmen, kräftigen Farben aus wie ein Filmplakat. Darauf posieren zwei junge Männer in Armeekleidung vor unbestimmtem Hintergrund wie Stars eines Kriegsfilms. Der kräftige rechts, bärtig, sympathischer Typ, schaut von der Seite her ernst zu mir hin, der jüngere links mit Haarsträhnen in der Stirn betrachtet gelöst lachend einen Orden, den er in der rechten Hand hält. «Wir sind hier, um zu leben», lese ich noch einmal. Ist das schlaue Propaganda? Oder aber eine kluge Motivation, um sich vorm Tötenmüssen, Tötenwollen oder der Angst vor dem Sterben zu schützen?

Um Leben, Lebensfreude und Tradition trotz des Krieges geht es auch auf diesem Lyriktreffen – «Lyrikfestival» heisst es allerdings nicht mehr, zumal im vierten Jahr des Krieges täglich im Land Menschen zerfetzt, verbrannt, verschüttet werden, flüchten müssen oder lebenslang Invaliden bleiben. Aber die Feier der Poesie bleibt. Unter grosser Medienpräsenz eröffnet Jewhenija Lopata, die vielfach international ausgezeichnete künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin von «Meridian Czernowitz», das diesjährige Lyriktreffen. «Der Krieg ist ein strenger Redaktor», sagt Swjatoslaw «Slawa» Pomeranzew, Präsident des Lyriktreffens, bei der Eröffnungsrede am 5. September. «Ich träume von dem Tag, an dem ich zur Eröffnung des Festivals von dieser Bühne aus sagen werde: ‹Poesie, danke! Wir haben dich gerettet, und du hast uns gerettet!›»


Im Paul-Celan-Zentrum wird die Bühne zunächst den deutschen Lyrikschaffenden Vera Vorneweg aus Düsseldorf und Mikael Vogel aus Berlin überlassen, übersetzt und moderiert von Petro Rychlo, Professor für Germanistik an der Jurij-Fedkowytsch-Universität in Czernowitz, preisgekrönter Spezialist für die Übersetzung deutscher Literatur ins Ukrainische. Im ukrainischen Publikum sitzen einige Gäste aus Deutschland, einer richtet mir zu meiner Überraschung sogar Grüsse eines befreundeten Berner Dichters aus, den er vor Jahren hier kennengelernt hat.

Am nächsten Tag sind der Dichter Uwe Kolbe aus Dresden und ich dran. «Der Krieg ist ein strenger Redaktor» – beim Aussuchen und Einsenden der Gedichte für die Übersetzung war mir sehr unwohl gewesen. Schliesslich habe ich mich für intertextuelle Gedichte, etwa mit Bezug auf den Trojanischen Krieg, entschieden, aber auch für ein Gedicht über den friedlichen Tod meiner Schwiegermutter, ein Coronagedicht über die Grenzschliessungen und eher ruhige Gedichte über den Bielersee und ein Dorf im Engadin. Ich stelle meiner Lesung eine kleine Ansprache auf Ukrainisch voran; diese Mühe scheint mir das Mindeste zu sein, um meinem Respekt Ausdruck zu verleihen. Die überschwängliche Resonanz berührt mich. An beiden Tagen werden wir umringt von Gästen, für die wir auf dem Programm bei unseren Porträts signieren sollen; Selfies werden gewünscht.

Besonderer Gast im Paul-Celan-Zentrum ist die bekannte ukrainische Sanitäterin und Aktivistin Juljia «Taira» Pajewska, die 2023 mit dem International Women of Courage Award des US-Aussenministeriums ausgezeichnet und von der BBC in die «100 Women»-Liste des Jahres 2022 aufgenommen worden ist. Beim Versuch, Frauen und Kinder aus Mariupol zu evakuieren, war sie 2022 festgenommen worden, und sie geriet für drei Monate in russische Gefangenschaft, wurde geschlagen und gefoltert. In der Zelle begann sie, Gedichte an die Wände zu schreiben. Nun hat der Verlag Meridian Czernowitz Pajewskas ersten Gedichtband herausgegeben. Eine lange Schlange zum Signieren bildet sich. Alle wollen Taira umarmen. Dann muss sie zurück an die Front.

An den Nachmittagen lesen ukrainische Autorinnen und Autoren wie Jaryna Tschornohus, Tanja Maljartschuk und Artem Tschech in einem modernen Restaurantkomplex in Shabby-Chic-Ambiente. Hier versammeln sich viele junge Leute, die mit angespannten, ernsten Gesichtern den Lesungen zuhören; es wird aber auch gelacht. Mit bester Technik werden die Lesungen im grossen Saal auf Bildschirme übertragen. Über die Hälfte der Gespräche über neue Werke und über das Leben im Krieg wird simultan via Youtube-Kanal ins Deutsche übersetzt. Leider kann der unermüdliche Dolmetscher mit plattdeutschem Akzent nicht mehr folgen, sobald literarische Passagen gelesen werden.

Parallel zu den Lesungen findet auf dem Vorplatz des Restaurants zu unserer Überraschung (und zur allgemeinen Erholung) ein Weinfestival statt – etwa zwanzig Anbieter lassen bei sehr lauter Musik die Gäste Wein aus der Bukowina kosten. Eine Maschine produziert Seifenblasen. Es gibt Schaschlik, Wurstbrötchen und Croissants, mit Nutella gefüllt. Am Abend tanzen wir unter dem Blutmond.


Ein Austausch mit den Schreibenden der Ukraine, auf den ich mich gefreut hatte, ergibt sich jedoch kaum; sie sind im Gespräch mit ukrainischen Zuhörer:innen oder müssen rasch wieder weg. Wir deutschsprachigen Gäste verbringen viel Zeit in den historischen Strassen, besichtigen Geburtsorte, Theater und Universität dieser Stadt, in der lange Zeit unter österreichischer Herrschaft Menschen jüdischer, rumänischer, ukrainischer, deutscher und polnischer Herkunft nebeneinander lebten. Der Zweite Weltkrieg mit seinen Machtwechseln in der Bukowina setzte dem ein Ende – Ermordung und Deportation der jüdischen Bevölkerung, Vertreibung von Polinnen, Rumänen und Deutschen, Ansiedlung von Ukrainerinnen und Russen. Wie herzlich die deutschen Gäste hier empfangen werden, ist mehr als eindrücklich.

Zu Freundschaften kommt es am Lyriktreffen dennoch, da wir – auch dies sehr geschickt vom Veranstaltungsteam organisiert – über die Tage von jungen Ukrainerinnen, die Englisch und Deutsch studieren, begleitet und betreut werden. Sie lachen viel, fragen viel und erzählen uns alles, was wir wissen möchten. Morgens und abends fragen sie per Whatsapp, ob wir Wünsche hätten oder wie es uns gehe. Denn so ganz ohne Risiko ist unser Aufenthalt nicht: Wir hören mehrfach die Sirenen, die vor Angriffen warnen. Die Lage des Luftschutzkellers im Hotel bleibt uns unklar. «Wir bleiben bei Alarm einfach im Bett», meint Jewhenija Lopata. «Wenn der Alarm ertönt, heisst das ja nur, dass gerade eine Rakete in Russland losfliegt. Sobald man weiss, wohin sie fliegt, gibt es Entwarnung.» Meistens wird auf der Alarm-App Fehlalarm gemeldet. Und doch: Im Juni wurde Czernowitz, trotz seiner Nähe zur Grenze zu Rumänien und damit zur EU, von Drohnen und einer Rakete getroffen. Zwei Menschen starben, vierzehn wurden verletzt.

Die Studentinnen Marija und Halyna berichten von ihrem Alltag. Sie müssen zu Hause online studieren, denn die Universität hat bei Luftalarm zu wenig Plätze im Schutzkeller. «Deswegen geniessen wir nun das Zusammensein mit euch», sagen sie. Die Zukunft sieht nicht gut aus. Junge Menschen wollen keine Familien gründen, weil sie fürchten, dass die Kinder ohne Väter aufwachsen müssen. Die einzige Hoffnung ist, dass die Liebsten für kritische Infrastrukturen in der Region eingesetzt werden und nicht an die Front müssen.

Nach drei Tagen voller Begegnungen und Poesie sitze ich im Kleinbus zum rumänischen Flughafen Iași neben Tania, einer jungen Frau mit langen Haaren aus Czernowitz, die aussieht wie Mitte zwanzig. Sie ist aber zehn Jahre älter, Zahnärztin und Dozentin für restaurative Zahnheilkunde. Monatelang hat sie ihre Verwandten aus umkämpften Gebieten bei sich aufgenommen. An eine eigene Familie sei nicht zu denken, sagt auch sie. Ein guter Freund hat sich nun für drei Jahre in der Armee verpflichtet. «Oleg ist bereit, für uns sein Leben zu geben», sagt sie voller Schmerz und Bewunderung. Ich denke an das Plakat der ukrainischen Armee.

Vera Schindler-Wunderlich, geboren in Solingen, ist Lyrikerin und lebt in Allschwil bei Basel. 2014 erhielt sie den Schweizer Literaturpreis.