Präsidentschaftswahl in Kamerun: Wenn sein Tod die einzige Chance ist

Nr. 40 –

Mit 92 Jahren tritt Paul Biya für eine achte Amtszeit an. Eine Lösung des jahrelangen Konfliktes in Kameruns Westen wird es unter ihm nicht geben. Reise durch ein zermürbtes Land.

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grosse Videowand mit dem Abbild des Präsidenten Paul Biya an einem belebten Platz in der Hauptstadt Jaunde
Der älteste Präsident der Welt: Paul Biya ist in der Öffentlichkeit nur noch auf Plakaten und Leuchtreklamen zu sehen, hier in Kameruns Hauptstadt Jaunde.

Marie Mamfes Augen füllen sich mit Tränen, als sie vom Angriff der Separatisten im Jahr 2016 erzählt. Zusammen mit ihrer Familie sass sie damals in ihrem Haus in Mkpot, einem 200-Seelen-Dorf mitten im Dschungel im Südwesten Kameruns. Eine Idylle, umgeben von Palmenwäldern und Kakaoplantagen.

«Schüsse!», sagt Mamfe, «Schüsse!» Fast wie bei einer springenden Schallplatte wiederholt sie die entscheidenden Wörter und Sätze, manchmal dreimal. Als würden die Erinnerungsfetzen sie aus der Spur werfen­­ – und zurück an den Anfang.

Mamfe packte die jüngsten ihrer fünf Kinder und stürmte aus dem Haus. «Wir konnten nicht sehen, wo die Kugeln herkamen», sagt sie. «Wir rannten einfach. Wir rannten.» Sie versteckte sich im Dschungel. Lag die ganze Nacht im Schlamm, die Kinder an sich gedrückt, und versuchte zu schlafen, das Surren der Moskitos im Ohr.

Neun Jahre sind seither vergangen. Und bis heute kämpfen Dutzende Milizen, «Amba Boys» genannt, für die Gründung eines eigenen Staates: Ambazonien soll er heissen und zwei mehrheitlich englischsprachige Regionen umfassen.

Marie Mamfe, die in Wirklichkeit anders heisst, sitzt in einem halbdunklen Wohnzimmer auf einem alten, braunen Sofa. Nicht in Mkpot, sondern in Buea, einer rund 200 Kilometer weiter südlich gelegenen Stadt. «Wir können nicht zurück», sagt die 52-Jährige, «die Boys sind da draussen. Sie morden wie im Rausch.» Mehr als 1,1 Millionen Menschen wurden in diesem Krieg bislang vertrieben. Die Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council hat ihn in diesem Jahr zur weltweit am stärksten vernachlässigten Vertreibungskrise erklärt. Vernachlässigt ist diese Krise aber nicht nur, weil Konflikte in Afrika die Menschen in Europa seit jeher kaum interessieren, sondern auch, weil sich selbst die kamerunische Regierung nicht wirklich darum kümmert. Präsident Paul Biya ist 92 Jahre alt und damit das älteste Staatsoberhaupt der Welt. Statt zu regieren, klammert er sich längst bloss noch an die Macht. Die letzte Kabinettssitzung hat er im Jahr 2019 einberufen.

Marie Mamfe glaubt nicht mehr an ein nahes Ende des Konflikts. «Die Boys tauchen auf. Sie schlagen zu und verschwinden wieder», sagt sie. Auf solche Guerillamethoden habe Kameruns Militär keine Antwort. Wobei das Militär auch gar nicht die Antwort auf diese Krise sein kann: Die muss politisch sein. Denn der Konflikt hat historische Dimensionen.

Marie Mamfe verdeckt ihr Gesicht mit einem Vorhang
Ohne ihren Mann ist es für sie schwer durchzukommen: Marie Mamfe.

Koloniales Vermächtnis

Einst war Kamerun eine deutsche Kolonie. Nach ihrem Sieg im Ersten Weltkrieg übernahmen Grossbritannien und Frankreich die Verwaltung; der Westen des Landes wurde durch das britische Kolonialsystem geprägt, der Osten durchs französische. Ein Land, zwei politische Ordnungen, zwei Kolonialsprachen: Es war eine Trennung mit lang anhaltenden Folgen. In den fünfziger Jahren starteten Rebellen einen Aufstand gegen die französische Kolonialmacht, 1960 entliess die Regierung in Paris – und ein Jahr später auch die in London – das Land in die Unabhängigkeit. Allerdings nur in eine begrenzte. An die Macht kamen Kräfte, die Frankreich zugewandt blieben. Die Rebellen kämpften weiter, nun gegen die neue Regierung; in einem rund zehnjährigen Bürgerkrieg wurden Zehntausende Menschen getötet, aber zu einer echten Aufarbeitung kam es nie. Die siegreiche, eng mit Frankreich verbundene Staatsspitze unterwarf auch den britisch geprägten Teil im Südwesten. Und sie setzte auf Assimilation statt Integration.

1982 übernahm dann jener Paul Biya die Präsidentschaft, der ganze 43 Jahre später noch immer an der Macht ist. Kaum im Amt, gab er dem Staat einen neuen Namen: Aus der «Vereinigten Republik Kamerun», was immerhin noch angedeutet hatte, dass es einen anglofonen Landesteil gibt, wurde die «Republik Kamerun». Eine Republik, in der sich frankofone Eliten die wichtigsten Machtpositionen sicherten.

Viele Menschen im englischsprachigen Landesteil waren die politische Ausgrenzung endgültig leid, als die Amba Boys 2016 ihre Rebellion starteten. «Wir hatten ein gutes Leben», sagt jedoch Marie Mamfe. Zusammen mit ihrem Mann hatte sie eine Kakaoplantage, sie produzierten Palmöl und ernteten Orangen. Ihre Kinder gingen zur Schule. Und sie hatten gerade mit dem Bau eines neuen Hauses begonnen. Zwei Stockwerke hoch, viel Platz für die ganze Familie. Sie richteten sich für viele nachfolgende Generationen im Dorf ein. Umso schwerer fiel es ihnen zu gehen.

Nach dem ersten Angriff kehrten sie ins Dorf zurück. Auch nach dem zweiten und dem dritten. «Manchmal kam es zweimal pro Woche zu Schiessereien», sagt Mamfe. «Man konnte jederzeit von Querschlägern getroffen werden.» Wieder hat sie Tränen in den Augen. «Eben bist du noch gelaufen, dann liegst du tot auf dem Boden.» Sie habe das oft gesehen.

Erst 2021 gaben sie auf. «Die Kinder in unserem Dorf verkümmerten», sagt Mamfe. «Sie konnten nicht mehr in die Schule gehen.» Eine Vorstellung, die sie nicht ertrug. Sie rief einen Cousin an, der sie nach Buea brachte. Von Leben könne in Mkpot heute, da die Häuser zerfallen und die Strassen überwuchert seien, keine Rede mehr sein.

«Das Beste kommt erst noch»

Rund 250 Kilometer östlich von Buea liegt Jaunde. Kameruns Hauptstadt ist umringt von dicht bewachsenen Bergen, ein dunkelgrüner Kessel. Auf einem Verkehrskreisel im Zentrum ragt ein Denkmal in die Höhe: Zwei weisse Betonbögen kreuzen sich fünfzehn Meter über dem Boden. «Ich liebe Kamerun», steht darauf geschrieben – einmal auf Französisch und einmal auf Englisch. Das Regime hat das Monument vor drei Jahren eingeweiht. Um eine Einheit zu feiern, die es nie gab.

In einem Konferenzraum ganz in der Nähe des Kreisels sitzt eine Frau, die ihre Rastazöpfe zu einem Turm hochgebunden hat. «Diese Krise ist eine direkte Folge schlechter Regierungsführung», sagt Edith Kahbang Walla. Bekannt unter dem Namen Kah Walla, gehört sie zu den wichtigsten Figuren der kamerunischen Opposition. Vor allem im anglofonen Westen, wo sie selbst herkommt, fehle es den Menschen am Nötigsten, sagt sie – an Spitälern, Strom, Wasser. Und an Arbeit.

Auf dem Papier ist Kamerun heute die zweitstärkste Volkswirtschaft Zentralafrikas, hauptsächlich aufgrund von Öl- und Erdgasexporten. Aber der Wohlstand ist ungleich verteilt, und vor allem die Jüngeren finden kaum Jobs. Nicht nur die Amba Boys im Westen, sondern auch die Islamisten von Boko Haram im Norden des Landes umgarnen sie. «Die Extremisten haben leider recht, wenn sie den jungen Menschen erzählen, dass sie ihrer Regierung egal sind», sagt Kah Walla.

Portraitfoto von Kah Walla
«Wir sehen die Regierung als Diktatur»: Kah Walla, ehemalige Präsidentschaftsbewerberin.

Schon mehrfach hat sich die Sechzigjährige als Präsidentschaftskandidatin aufstellen lassen, erstmals 2011. Doch in Kamerun gab es nie faire Wahlen. Der Grossteil der Bevölkerung, die zur Hälfte unter neunzehn Jahre alt ist, hat nie einen anderen Präsidenten gehabt als Paul Biya, dessen Regime die Wahlorgane kontrolliert. «Wir betrachten diese Regierung als Diktatur», sagt Kah Walla. Deshalb boykottiert sie mittlerweile die Wahlen, setzt stattdessen auf zivilgesellschaftliches Engagement.

Auch darauf reagierte das Regime mit zuweilen gewaltsamer Repression, aber Kah Walla machte trotzdem weiter. 2014 gründete sie Stand Up for Cameroon: ein Bündnis, das nun gewissermassen auf den Tod Biyas wartet – womöglich die einzige Chance auf einen Machtwechsel. Aber so würde Kah Walla das nie sagen. Denn seit 2024 ist es in Kamerun verboten, über die Gesundheit des Präsidenten zu spekulieren.

Damals war Biya mal wieder im Privatjet in Richtung Schweiz verschwunden: In Genf kommt er regelmässig im Hotel Intercontinental unter und lässt sich medizinisch behandeln. Als mehrere Wochen nichts von ihm zu hören war, kursierte das Gerücht, er sei gestorben. «Das ist kein Geist», kommentierte das Staatsfernsehen dann Biyas Rückkehr. Wobei sich da heute viele gar nicht mehr so sicher sind. Der 92-Jährige tritt meist bloss noch zur Neujahrsansprache und am Nationalfeiertag vor die Bevölkerung. Oft wirkt Biya verwirrt, abwesend. Trotzdem kündigte er im Juni an, bei den Wahlen am 12. Oktober noch mal anzutreten. «The best is yet to come», schrieb er auf X: Das Beste kommt erst noch. Am Ende seiner dann achten Amtszeit wäre er 99 Jahre alt.

Und Biya wird auch diese Wahl wieder gewinnen, das gilt als sicher. Zu zersplittert ist die Opposition und durchsetzt von Scheinkandidaturen. Ende Juli schloss die Wahlkommission mit Maurice Kamto zudem einen der aussichtsreichsten Herausforderer aus. Als dagegen protestiert wurde, setzten die Sicherheitskräfte Tränengas ein.

Jeden Montag Ausgangssperre

Eine Wand in Marie Mamfes halbdunklem Wohnzimmer in Buea ist mit Fotos tapeziert. Auf vielen ist ihr Mann zu sehen. «Er war ein starker Mann», sagt Mamfe, «doch er hat einfach aufgegeben.» Vor einem Jahr wurde er krank; die Ärzte diagnostizierten Magenentzündungen, dann Nierenprobleme. «Ich glaube, am Ende ist er aus Frust gestorben», so Mamfe.

In Buea hat sie eine kleine Parzelle, auf der sie etwas Landwirtschaft betreiben kann. Ohne ihren Mann sei es nun aber noch schwerer durchzukommen. Zwei ihrer Töchter müssen arbeiten, nur die jüngste kann die Schule besuchen. Immerhin: Hier fühlen sie sich sicher. Zumindest in der «grünen Zone» im von der Regierung kontrollierten Westen der Stadt.

Wenige Kilometer entfernt beginnt die «rote Zone». An einem Montag im Juli liegen am Rand der Strasse Mile 16 zwei ausgebrannte Autos mit Einschusslöchern. Daneben: ein umgeknickter Strommast, ein zersprengter Marktstand. «Die Amba Boys haben mal wieder gewütet», sagt ein Polizist.

Die Milizen haben in der Region «Black Mondays» eingeführt: Immer montags verbieten sie den Menschen, ihre Wohnungen zu verlassen. Sie sollen der Gefallenen des Konflikts gedenken. Wer sich trotzdem rauswagt, riskiert sein Leben; so wie die Menschen, die in den verkohlten Autos sassen. Solche Anschläge sind Signale der Amba Boys an Paul Biya, dass sie seine Herrschaft nicht anerkennen. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie am Wahltag weitere senden werden. Gut möglich, dass das Leid in Kamerun erst endet, wenn der ewige Präsident tatsächlich ein Geist ist.