Lesetipps: Im Himmel der Schirme

Nr. 41 –

Autorin Lenny Kaye Bugayong hat im Podcast von «studiyo filipino», einer Plattform für den interkulturellen Dialog mit den Philippinen, mit Leser:innen aus der Diaspora darüber gesprochen, welche Bücher sie dem Publikum in der Schweiz empfehlen. Abgesehen vom Klassiker «America Is in the Heart» des 1956 verstorbenen Carlos Bulosan findet man die empfohlenen Bücher und Autor:innen auch im Programm der Frankfurter Buchmesse.

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Diktatoren verhindern

Der Friedensnobelpreis wurde ihr zwar bereits 2021 verliehen, doch Maria Ressas «How to Stand Up to a Dictator» (so lautet auch der deutsche Titel) könnte zeitgemässer nicht sein. Dies sagt im Podcast von «studiyo filipino» Stephanie Willi, Wissenshistorikerin aus dem Kanton Aargau und Archivarin an der ETH, die wie Maria Ressa Wurzeln in den Philippinen hat.

Als jemand, die sich sowohl privat als auch fachlich damit auseinandersetzt, weiss Willi um die Gefahren von Social Media, die seit über einem Jahrzehnt unsere Informationslandschaft neu definieren. Inzwischen haben wir Wörter wie «Echokammer» in unseren Wortschatz aufgenommen und verstehen auch, wie diese zu politischer Polarisierung beitragen können. Dennoch findet Willi, dass jede:r dieses Buch von Maria Ressa gelesen haben muss.

Ressa beschreibt darin, wie Facebook den philippinischen Markt gezielt als Testlabor ausnutzte. Die Folgen von über Social Media geführten Kampagnen zeigten sich 2016 bei der Präsidentschaftswahl, die Rodrigo Duterte gewann. Dem einstigen Anführer von Gruppen, die Selbstjustiz ausübten, der als Schlusslicht in den Wahlkampf gestartet war, gelang der Sieg auch mithilfe von Internettrollen. Die gleichen Mechanismen setzten sich im globalen Rahmen fort und entziehen sich bis heute jeglicher Regulierung.

Maria Ressa: «How to Stand Up to a Dictator. Der Kampf um unsere Zukunft». Quadriga Verlag. Köln 2022. 368 Seiten.

Reichen Familienbande über Weltmeere hinweg?

Für ein besseres Verständnis philippinischer diasporischer Verhältnisse empfiehlt Cécile Bünter im Podcast die Werke von Carlos Bulosan, zum Beispiel «America Is in the Heart». Zwar war Bulosan bereits in den vierziger Jahren literarisch tätig, doch seine Gedanken finden bis heute Anklang, in den USA wie auch bei Bünter, die in St. Gallen aufgewachsen ist. Bulosans Fragen zu Identität – als ausgewanderter Filipino einerseits und als eingewanderter US-Amerikaner andererseits – bleiben relevant.

Als Enkelin eines philippinischen Grossvaters, von dessen fünf Kindern vier wie Bulosan nach Amerika ausgewandert sind, stellt sich Bünter ähnliche Fragen wie der Autor: Was genau hält ihre Familie noch zusammen? Ist es die Sprache? Sind es die geteilten Werte? Und was, wenn sich Familienbande über Weltmeere hinweg auflösen?

Bulosans Werke bieten zudem auch seltene Einblicke in die Lebens- und Leidensgeschichten von Immigrant:innen aus den Philippinen, die an der Wende zum 20. Jahrhundert und kurz danach in den USA angekommen sind. Als Arbeiter (meist männlich) auf Plantagen, die zeitweise als Nomaden quer durchs Land reisten, um sich von Job zu Job zu hangeln, wurden sie zuweilen Opfer von Gräueltaten, wie man sie sonst aus Berichten von Sklavenarbeiter:innen kennt. Am Ende seines Lebens engagierte sich Bulosan als Gewerkschafter, bis heute gilt er als einer der ersten und bedeutendsten «Fil-Am»-Autor:innen (für Filipino-American).

Carlos Bulosan: «America Is in the Heart». Roman. Penguin Verlag. London 2019. 384 Seiten.

Verloren im Stossverkehr

Gibt es eigentlich einen Himmel für die Schirme, die wir immer wieder verlieren? Dieser Frage geht die Lyrikerin und Professorin für literarisches Schreiben Luna Sicat Cleto in ihrem Gedicht «Payong» nach. Manche Schirme dienen als Gehhilfe, an anderen Tagen schützen sie uns vor zu viel Sonne. Doch manchmal öffnen sie sich wie eine welke Blume, kraftlos, und lassen uns im Regen stehen.

Wir alle kennen das Gefühl, erst in dem Moment zu merken, dass wir unseren Schirm nicht mehr haben, wenn wir ihn am meisten brauchen. Doch wie fühlt es sich an, wenn einen dieser Moment ausgerechnet im Stossverkehr von Manila ereilt? Und einem noch dazu gerade gekündigt wurde? Vielleicht gibt es ja tatsächlich einen Schirmhimmel. Oder vielleicht fliegen die Schirme, die wir verloren haben, jemandem entgegen, der sie dringender braucht?

Luna Sicat Cletos Gedichte wirken zwar unaufgeregt, doch in ihnen verbirgt sich meistens eine scharfe Kritik herrschender sozialer Strukturen. Cleto setzt sich in ihren Werken mit Ereignissen der philippinischen Geschichte, aber auch den diasporischen Lebensrealitäten von Filipinas und Filipinos auseinander. Eine Sammlung ihrer Gedichte ist 2024 unter dem Titel «Offenes Meer», übersetzt von WOZ-Autorin Annette Hug, erstmals auf Deutsch erschienen.

Luna Sicat Cleto: «Offenes Meer». Gedichte. Edition Tincatinca. Winterthur 2024. 96 Seiten.

Variationen auf ein Nationalgericht

Selbst in einer postmigrantischen Schweiz erleben philippinischstämmige Personen aus der zweiten Generation immer wieder Diskriminierung. Allerdings gibt es wohl ein Gebiet, auf dem sich Kinder von eingewanderten Müttern bevorzugt fühlen dürfen: Sie wachsen für gewöhnlich mit gutem Essen auf. Genau das dürfte auch für Patrick Wirz aus Zürich zutreffen. Seine Mutter beherrschte die Zubereitung von Schweizer Klassikern genauso wie die seiner philippinischen Leibspeisen – einschliesslich des philippinischen Nationalgerichts Adobo. Dabei wird Fleisch, Fisch oder Gemüse mariniert, die Marinade besteht meistens aus einer Kombination von Essig, Sojasauce und Knoblauch.

Mit vierzig reist Wirz endlich zum ersten Mal zu den Reisfeldern, wo seine Mutter aufwuchs, wie er im Podcast erzählt. Dort fühlt er sich gleich heimisch, denn alles, was er schon als Kind ass, gibt es auch im philippinischen Hochgebirge, einfach mit anderen Zutaten – zum Beispiel Adobo mit Frosch. Zurück in der Schweiz, begegnet er dann dem philippinischen Gastronom Claude Tayag, der ihm die Geschichte von Adobo näherbringt.

Mit seinem Buch «The Ultimate Filipino Adobo» will Tayag aber alles andere als ein Standardrezept vorschreiben. Vielmehr hinterfragt er die Ansicht, es gebe überhaupt etwas, was für alle auf den Philippinen gleichermassen typisch sei. Denn auf dem Archipel herrscht in jeder Hinsicht eine unendliche Vielfalt, die es entsprechend zu entdecken gilt. Heute versteht Patrick Wirz, dass ihm des Rätsels Lösung schon immer ganz nahe war: «The Ultimate Filipino Adobo», so Tayag, sei für jede:n das Adobo, das die eigene Mutter kocht.

Claude Tayag: «The Ultimate Filipino Adobo. Stories + Recipes from the Heart». Anvil Publishing. Mandaluyong 2024. 207 Seiten.

Mehrere Herzen in ihrer Brust

Im Gegensatz zur philippinischen Literatur aus den USA, die heute ein weitreichendes Repertoire umfasst, sind Werke philippinischer Autor:innen aus deutschsprachigen Ländern ein relativ neues Phänomen. Autobiografien wie die von K. H. Kasilag («Mein verschmähtes Bochum», 2020), die auf den Philippinen geboren wurde und heute im Kanton Glarus lebt, erzählen etwa davon, wie jemandes «Integration» vonstattengehen kann.

Was, wenn man, ohne es sich selbst ausgewählt zu haben, in der Schweiz zu Hause ist? Oder wenn man hier geboren wurde, aber philippinische Eltern hat? Im öffentlichen Diskurs wird in diesen Fällen oft ebenfalls von Integration gesprochen. Damit wird verkannt, dass der damit gemeinte Prozess für Kinder und Jugendliche unter ganz anderen Umständen verläuft als für Erwachsene: biografisch, psychologisch und in der Interaktion zwischen sich selbst und ihrer Umwelt.

2022 wurde im Buch «Common Diversities» erstmals versucht, solchen Lebensrealitäten wissenschaftlich und anekdotisch auf den Grund zu gehen. Das Buch vereint Fachartikel mit Erfahrungsberichten von Menschen aus Deutschland und Österreich, die einen oder zwei philippinischstämmige Elternteile haben. Nun erscheint die zweite Ausgabe, und darin sind auch Stimmen aus der Schweiz vertreten. Stephanie Heid aus dem Kanton Solothurn beschreibt etwa, wieso es für sie wichtig war, sich bewusst damit auseinanderzusetzen, dass sie eben nicht «nur» Schweizerin ist, sondern sozusagen mehrere Herzen in ihrer Brust trägt. Seither weiss sie, dass sie ihre Lebensgeschichte selbst schreiben muss.

Arlene D. Castañeda, Ralph Chan (Hrsg.): «Common Diversities 2. Filipino Europeans Remaking the Past, Shaping the Future». regiospectra. Berlin 2025. 274 Seiten.