Film: Wer den Himmel küsst
Zwischen getrieben und sediert: Der Film «I Love You, I Leave You» begleitet Dino Brandão durch manisch-depressive Phasen. Nicht immer bleibt die Kamera eingeschaltet.
Seine Psyche sei eine Hüpfburg, so sang er schon in «Bouncy Castle», seiner ersten Single unter eigenem Namen. Aber wer hüpft, den ziehts bekanntlich auch wieder runter, weil: Schwerkraft. Und wer Dino Brandão zuhörte, spürte das damals schon, in diesem schimmernden Bossa Nova, über dem er seine unfassbar elastische Stimme tänzeln liess. «Self-Inclusion» (2024), sein überbordendes Solodebüt, fing dann an mit «Sweet Madness». Ganz sachte stolpert er voran, dieser Song über einen Spaceman, dem die Rakete abhandengekommen ist.
Jetzt, ganz am Ende des Dokumentarfilms «I Love You, I Leave You» und auch auf dem dazugehörigen Album, geht Brandão wieder in die Luft. «I kissed the sky I crashed into», singt er da, ungemein zart. Statt der Hüpfburg als Metapher ist es diesmal ein Ballon, der durch die Gegend furzt, bis die Luft raus ist. Ein bodenlos tröstlicher Abspannsong ist das, er heisst «Nothing to Hide», passend zu diesem Film, der auch alles auf den Tisch legen will. Namentlich die psychische Erkrankung, um die er kreist, mit allen Höhen und Tiefen, die damit einhergehen: für den Musiker wie auch für sein Umfeld.
Und auch mit allen Ambivalenzen und Widersprüchen. Weil die Medikamente, die dir helfen, dich auch brechen können. Weil du, gerade als Musiker, doch alles spüren willst. Aber alles spüren sei halt anstrengend, wie Dino Brandão im Film einmal sagt.
SMS aus der Klinik
Schon vor über zehn Jahren, als bei ihm die erste manische Episode auftrat, hat sein alter Skaterfreund Moris Freiburghaus die gemeinsame Erfahrung verarbeitet, als Student an der Zürcher Hochschule der Künste. «Paradox» (2013) hiess jener kurze Spielfilm, die Hauptfigur spielte dort Tobibi Bienz. Wie damals schon kommt dann auch der Anstoss zum neuen Film von Brandão. Im Sommer 2022 ist er wegen einer MS-Diagnose im Spital, bei seiner Entlassung ist er «schlaflos und schwer manisch», wie er im Gespräch sagt. Es folgen Auftritte in Montreux und auf dem Gurten, doch zuvor schickt er aus der Klinik eine SMS an Freiburghaus. Sinngemäss: Lass uns «Paradox 2» machen, diesmal aber als Actionkomödie!
Aber von wegen. Ein ganz anderer Film ist das geworden. «I Love You, I Leave You» setzt in Angola ein, wo sich Brandão am Grab seiner Grossmutter, die auch schon manisch-depressiv war, flach auf den Boden legt. («Noch nie», sagt er im Gespräch, «habe ich eine so tiefe Trauer gegenüber einem Menschen empfunden.») Zurück in Zürich, rechnet der Maniker seinem Freund und Regisseur vor: Wenn er bis Montag nicht mehr schlafe, sei er allen vier Tage voraus. Allmachtsgefühle, noch sehr vergnügt hier. Bald darauf aber: Polizeigewalt, als er in Gewahrsam genommen wird. Fürsorgerische Unterbringung in der Klinik, sediert von Medikamenten. Später erreicht den Regisseur wiederholt die Nachricht, dass Dino aus der Klinik getürmt ist, vor der Kamera hadert er mit sich: Soll er der Polizei die Adresse des Proberaums preisgeben? Oder wäre das Verrat an seinem Freund?
Doch wie macht man überhaupt einen solchen Film? Wie filmt man einen psychisch kranken Freund, wo zieht man die Grenzen bei diesem «grenzwertigen Experiment», wie es der Regisseur an einer Vorpremiere nennt? «Maximales Bauchgefühl», antwortet Moris Freiburghaus bei einem Treffen mit den beiden in der «Total Bar» in Zürich. Die gemeinsame Erfahrung bei der ersten manischen Episode habe sicher geholfen, da sind sie sich einig. Dass sie das nicht zum ersten Mal zusammen durchmachen: Das sieht man im Film wohl auch daran, wie souverän Freiburghaus mit vielem umgeht – am Telefon mit der Chefärztin oder auch, wenn er die Verhaltensauffälligkeiten seines Freunds Dino spiegelt, als dieser beteuert, er sei wieder klar im Kopf.
«Okay, wenn ich dich filme?», fragt er später einmal aus dem Off, als Brandão antriebslos im Bett liegt. (Keine Antwort.)
So ist das ein Film, der laufend auch seine Entstehungsbedingungen reflektieren muss. Dazu gehört auch, dass die Kamera eben nicht immer und überall läuft. Wie bei dem Polizeieinsatz auf dem Toni-Areal, von dem es keine Bilder gibt. «Mega froh» sei er gewesen, dass er da ohne Kamera hingefahren sei, erzählt Freiburghaus, weil das um einiges härter hätte eskalieren können, wenn er da noch gefilmt hätte. Im Film nun wird diese Episode lediglich in handschriftlichen Zwischentiteln auf schwarzem Grund rapportiert – und wirkt dadurch umso intensiver. Die Bilder können wir selber machen, im Kopf.
«Bilder im Kopf», so hiess jüngst ein anderer Schweizer Dokumentarfilm, der auch schon psychische Gesundheit aufs Tapet brachte – nicht unter Freunden, sondern zwischen Vater und Tochter. In einer klinisch weissen Studiokulisse mit Fenster zum Meer sieht man Regisseurin Eleonora Camizzi, wie sie ihren Vater zum Gespräch trifft: über seine Psychosen und vor allem auch über den Umgang damit in der Familie. Eine hochartifizielle Versuchsanordnung wird da zur intimen Bühne für eine sehr persönliche Aufarbeitung, für eine Entstigmatisierung auch.
Erinnerungen an «Chrigu»
In «I Love You, I Leave You» dagegen geschieht alles im Prozess. Das Projekt abzubrechen, sagt Moris Freiburghaus, sei denn auch jederzeit im Rahmen des Möglichen gewesen: «Für mich fast mehr noch als für Dino. Eigentlich auch jetzt noch, für mich.»
Er meint das ernst, auch wenn ihm natürlich klar ist: Um noch abzubrechen, ist es jetzt doch zu spät. Erst recht, nachdem «I Love You, I Leave You» am Zurich Film Festival als bester Dokfilm im internationalen Wettbewerb ausgezeichnet wurde. «Noch nie», so liess die Jury verlauten, hätten sie «etwas Vergleichbares gesehen». Nun, wer sich nur ein bisschen auskennt im Schweizer Film, erinnert sich unweigerlich an «Chrigu» von Jan Gassmann und Christian Ziörjen. Bald zwanzig Jahre her, auch so ein schonungslos intimes Zeugnis von zwei jungen Männern über die Krankheit des einen, ebenfalls in einem Kollektiv entstanden.
Aber anders als damals in «Chrigu» geht es diesmal nicht ums Sterben. Der Tod wird nicht negiert in «I Love You, I Leave You», aber er bleibt ein Schatten im Hintergrund – am Grab der Grossmutter oder wenn einmal beiläufig von suizidalen Phasen die Rede ist. Das heisst nicht, dass hier weniger auf dem Spiel stünde. Das ist kein Film über einen Abschied, sondern einer über das Weitermachen, über das gemeinsame Weitermachen.
Männer, die sich kümmern
Und dass die Frauen im Film im Hintergrund bleiben, die Mutter oder die Schwester nur mal am Telefon zu sehen oder zu hören sind? Das habe sich so ergeben und sei auch nicht unbedingt repräsentativ, sagt Dino Brandão. «In der Phase vor dem Film, im Sommer 2022, waren sie es, die sich um mich gekümmert haben: meine Mutter, meine Freundin und meine Schwester.» Später dann seien es in erster Linie sein Vater und sein Freund Moris gewesen, weshalb die beiden im Film am meisten Raum einnehmen. (Michael Karrer, der Editor des Films, war der Dritte im Bund; ein dreiköpfiges Care-Team, das Brandão sein «Triangle of Sadness» genannt habe.)
Und das ist jetzt das andere grosse Verdienst dieses Films, neben seinem Umgang mit der Krankheit, der offenherzig ist, aber nie voyeuristisch, in den traurigen Momenten nicht und auch nicht in den lustigen, die es genauso gibt. Denn das sieht man immer noch sehr selten im Kino: Der Film zeigt Männer, die sich kümmern, die füreinander sorgen. Und die miteinander darüber reden, wie es ihnen geht. Auch dann, gerade dann, wenn die Gefühle kompliziert sind statt einfach.
«I Love You, I Leave You». Regie: Moris Freiburghaus. Schweiz 2025. Jetzt im Kino.
Dino Brandãos Album zum Film erscheint am 7. November bei Two Gentlemen. Konzerte in: Fribourg, Kino Korso, Do, 13. November 2025; Zürich, Helsinki, Di/Mi, 25./26. November.
«Bilder im Kopf» im Rahmen von «Let’s Doc!» in: Luzern, Südpol, Do, 6. November 2025; Zürich, Helferei, Fr, 7. November 2025; Luzern, Salon Himmelblau, Do, 13. November 2025. Spielzeiten siehe www.letsdoc.ch.