Film: Widerstand ist keine Frage des Alters
Poetische Revolte auf dem Amazonas: Im neuen Spielfilm des Brasilianers Gabriel Mascaro trotzt eine Rentnerin wider Willen einem totalitären Regime.
«Die Zukunft gehört allen», schallt es aus einem der zahlreichen Lautsprecher im Dorf irgendwo im brasilianischen Amazonasgebiet. Wie viele Slogans, mit denen totalitäre Regimes ihre totalitären Programme anzupreisen versuchen, klingt auch dieser erst einmal nicht unvernünftig. Wenn man dann auf einmal merkt, dass man nicht zu «allen» gehört, ist es in der Regel bereits zu spät – und bald schon fährt in «Tereza. O último azul» der vergitterte Transportwagen vor, und uniformierte Gestalten raten höflich davon ab, Gegenwehr zu leisten.
Das Höchstalter, bis zu dem man als arbeitsfähig gilt, sei kürzlich von 80 auf 75 Jahre gesenkt worden, so wird die verdutzte Alligatorfleischfabrikarbeiterin Tereza (Denise Weinberg) informiert. Ein Transport werde sie in den nächsten Tagen zur «Kolonie» bringen, wo die 77-Jährige ihre letzten Lebensjahre «geniessen» könne. Das müsse sein, damit sich die jüngere Generation auf Wertschöpfung und Wachstum konzentrieren könne, statt sich mit der unproduktiven Pflege der Eltern aufzuhalten. Tereza jedoch widersetzt sich: Lieber ergreift sie die Flucht durch die ungewissen Windungen des Amazonas, als sich in irgendwelche Kolonien verfrachten zu lassen, «aus denen noch niemand zurückgekehrt ist».
Wieso immer junge Körper?
Science-Fiction? Regisseur Gabriel Mascaro, in Berlin mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet, beschreibt seinen Film lieber als «spekulative Fiktion», die ausserhalb einer konkreten Zeit stehe. Politische Dystopien, Coming of Age und Aufbegehren gegen das System: Das alles werde in der Regel nicht mit siebzigjährigen Körpern assoziiert, meint er etwas schelmisch im Gespräch am Rand des Zurich Film Festival. Es sei ihm darum gegangen, an die Stelle all jener jungen Körper, die das Genrekino bevölkerten, den einer älteren Frau zu setzen. «Auf die Idee bin ich gekommen, als meine Grossmutter nach dem Tod meines Grossvaters zu malen begann. Wie sie auf einmal wieder anfing, ihr Leben zu gestalten – das fand ich inspirierend.» Bei der Recherche sei ihm dann erstens aufgefallen, wie selten Filme mit älteren Protagonist:innen generell seien; und dass zweitens jene, die es gibt – von Michael Hanekes «Amour» bis zu «Tokyo Story» von Yasujirō Ozu –, meist von Vergänglichkeit, Tod oder Nostalgie für Vergangenes handelten. «Ich wollte aber einen Film über die Gegenwart machen.»
Bolsonaros tropischer Irrsinn
Es ist die Gegenwart Brasiliens – eines Landes, in dem viele noch die Erinnerung an eine zwanzig Jahre währende Militärdiktatur in sich tragen und wo die Politik der letzten zehn Jahre vom rechtsextremen Populisten Jair Bolsonaro bestimmt wurde. Und wie das so ist mit einer reaktionären Politik, die ihre Ziele nicht ganz erreicht hat: Interessantem Kino ist sie nicht unbedingt abträglich. Der 42-jährige Mascaro, bekannt geworden mit Filmen wie «Neon Bull» (2015), einer queer-erdigen Rodeo-Charakterstudie mit der vielleicht besten Sexszene der Filmgeschichte, sowie der farbig-futuristischen Religionsparodie «Divine Love» (2019), ist nur einer von vielen, die das brasilianische Kino im letzten Jahrzehnt zu einem der spannendsten der Welt gemacht haben. (In den Schweizer Kinos hat man noch nicht viel davon mitbekommen, aber das ist ein anderes Thema.)
Als das Bolsonaro-Regime während der Pandemie entschied, auf keinen Fall Arbeit und Fortschritt zu bremsen, bloss um ein paar ältere Leute zu schützen, hatte das, wenig überraschend, eine der höchsten Sterberaten weltweit zur Folge. Mascaros damals noch undystopisches Drehbuch «über ältere Leute» befand sich da erst in der Entwicklungsphase. Bolsonaro habe dann alles verändert – «und ich konnte eine Allegorie über all diesen tropischen Irrsinn spinnen». Darin sieht Mascaro die Hauptaufgabe des Kinos, unabhängig vom Genre oder auch vom Alter der Figuren: «Wir leben zurzeit in einer Welt voller Gewissheiten. Da ist es an der Kunst, Zweifel zu streuen. Denn Gewissheiten sind Teil des Faschismus.»
Weil mehr oder minder totalitär codierte Dystopien ja mittlerweile auch ohne aufwendiges Worldbuilding glaubhaft wirken, kann Mascaro in «Tereza. O último azul» seinen Fokus auf anderes richten. In den entstandenen erzählerischen und poetischen Freiräumen sind nämlich Dinge zu entdecken, die ansonsten wohl verborgen geblieben wären: Berge von Autoreifen im Urwald, entsorgt am Ursprungsort ihres natürlichen Rohmaterials; Schnecken, deren blauer Schleim, sanft in die Augen getropft, nicht nur psychedelisch, sondern auch zukunftsweisend wirkt; paradiesische Fischkämpfe, bei denen man alles gewinnen, aber auch alles verlieren kann; oder eine attraktive Gleichaltrige, die von ihrem Boot aus digitale Bibeln an gutgläubige Flussbewohner:innen verkauft, ohne dass sie selbst religiös wäre.
Anders gesagt: Als Science-Fiction lässt es sich selbst mit der laxesten Genredefinition nicht bezeichnen, dieses Boatmovie über eine rebellische Rentnerin wider Willen. «Tereza. O último azul» ist farbenfroh, poetisch, verspielt, queer, subversiv, naturverbunden, kapitalismuskritisch und hoffnungsvoll – und das alles unter neunzig Minuten.
«Tereza. O último azul». Regie: Gabriel Mascaro. Brasilien/Mexiko/Chile/Niederlande 2025. Jetzt im Kino.
Zurich Film Festival: Singen, brüllen, küssen
Und wieder mal überall Musik im Schweizer Film. Wie in «Melodie», dem neuen Dokumentarfilm von Anka Schmid, die in den unterschiedlichsten Milieus dem Singen als Kraftspender nachgeht. Dass Musik nicht immer Trost oder Heilung bringt, davon erzählen zwei Schweizer Filme in den beiden Wettbewerben am Zurich Film Festival. Wobei Jonas Ulrichs Spielfilmdebüt «Wolves» ohne Melodien auskommt – hier wird standesgemäss gebrüllt, nicht gesungen. Arbeitsalltag in der Kita, Ersatzfamilie im Black Metal: Das sind die Kontraste im Leben von Luana (Selma Kopp). Bei ihrem Cousin im Bandraum sucht sie Anschluss, doch der bleiche Pole (Bartosz Bielenia), der neu zur Band stösst: Ist er ein Halt für Luana oder erst recht ein Abgrund?
Vor allem die weibliche Hauptfigur bleibt dabei seltsam konturlos in ihrer Verlorenheit, die das Drehbuch eher behauptet als spürbar macht. Stimmiger als das Drama ist die Musik. Eigens für «Wolves» eine Band zu casten, um den Film dann teils live bei deren Konzerten zu drehen: Das ist eine Wette, die sich auszahlt – auch dank der Songs, die Manuel Gagneux für «Wolves» geschrieben hat. Aber wo die problematischen Elemente der Black-Metal-Szene zu Beginn noch lustvoll mit der Streitaxt zertrümmert werden, weiss der Film zuletzt doch nicht recht, was er mit den diversen politischen Ambivalenzen anfangen soll, die er zwischen #MeToo und Nazi-Okkultismus anreisst.
Ganz andere Dämonen sitzen dem Sänger Dino Brandão im Nacken. Dabei ist «I Love You, I Leave You», der im Dokumentarfilmwettbewerb läuft, nur nebenbei ein Musikfilm. Regisseur Moris Freiburghaus vom Sabotage-Kollektiv dokumentiert hier das, was sein Freund Dino am Schluss des Films in einen trügerisch leichten Song fasst: In manischen Phasen küsst er den Himmel und crasht in den Mond, ein Ballon, der herumfurzt, bis ihm die Luft ausgeht. Schonungslos offenherzig und frei von Voyeurismus ist das vor allem ein Film über eine Freundschaft, die laufend neu auf die Probe gestellt wird. Was tun, wenn der Freund mal wieder aus der Klinik getürmt ist? Und helfen Medikamente, wenn sie ihn zugleich brechen? Was wohl auch dann wahr bleibt, wenn die Psychose pausiert: Es stimmt halt beides.
«I Love You, I Leave You» startet am 6. November 2025 im Kino. «Melodie» startet im Frühling 2026, der Kinostart von «Wolves» ist noch offen.