Literatur: Abgründe einer Familie
Dieses Buch ist schwer zu ertragen. Wie schon in ihrem 2019 erschienenen Roman «Eine Familie» erzählt Pascale Kramer auch in «Die Nachsichtigen» vom Mikrokosmos Familie. Und wie in ihrem letzten Roman blickt sie dabei in Abgründe.
Die Erzählung beginnt 1977: Clémence ist dreizehn und zu Besuch im Haus ihrer Grosseltern bei Lausanne. Die zierliche Turnerin schwärmt für ihren Onkel Vincent mit demselben Ehrgeiz, mit dem sie auch trainiert. Der erfolgreiche Kunsthändler, das wird rasch klar, ist ein riesiges Arschloch. Er betrügt nicht nur seine Frau notorisch, sondern flirtet auch mit der Jugendlichen, die geradezu besessen ist von der Idee, von Vincent begehrt zu werden.
Der nächste Teil spielt fünf Jahre später. Clémence ist achtzehn und hat ein Verhältnis mit Vincent. In unbeteiligtem Ton und doch sehr detailliert beschreibt Kramer Sexszenen zwischen den beiden, die fast unerträglich zu lesen sind. Unerträglich ist auch das passive Umfeld, das schweigt, obwohl es zum Teil vom Verhältnis weiss. Kramer zeichnet ein Bild der achtziger Jahre, in denen der Missbrauch eines Teenagers durch einen erwachsenen Mann noch als eine «Gentlemantat» abgetan wurde. Als 1995, im dritten Teil des Buches, Vincents Frau die Verwandtschaft über das mittlerweile beendete Verhältnis informiert, fällt die Schuld rasch auf Clémence. «Was hast du dir erhofft?», will ihr Vater wissen. «Dass er Frau und Kind verlässt, um dich zu heiraten?» Erst 2016, im fünften und letzten Teil, spricht Vincents Tochter Klartext über ihren inzwischen verstorbenen Vater.
In «Die Nachsichtigen» spielt Pascale Kramer anhand einer Familie durch, wie sich die gesellschaftliche Akzeptanz von sexuellem Missbrauch über die Jahre gewandelt hat. Dabei verstört die bewusst distanzierte Erzählhaltung: Man wünscht sich, sie würde Partei für Clémence oder Vincents Frau ergreifen, sich mit ihnen verbünden. Doch das macht sie gerade nicht. Wie die Familie scheint auch die Autorin einfach zuzuschauen – und überlässt das Werten den Leser:innen.