Energiepolitik: Schmerzlicher Kompromiss
Fast alle Umweltorganisationen akzeptieren den Ausbau der Wasserkraft im Grimselgebiet – dafür werden andere Berner Gewässer unter Schutz gestellt und Naturräume aufgewertet. Ist eine solche Kompensation sinnvoll?
Rahel Marti von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz kommt fast ins Schwärmen: «Das war mehr als ein Dialog – es war eine Arbeitsgemeinschaft, in der alle ihre Kompetenzen einbringen konnten.» Nick Röllin vom Grimselverein sieht es ganz anders: «Das war kein Dialog. Das Ziel stand schon fest. Darum haben wir nach der ersten Sitzung nicht mehr teilgenommen.»
Beide sprechen vom selben Prozess: dem «Grimseldialog». In ihm haben die Kraftwerke Oberhasli (KWO) und der Kanton Bern mit Umweltverbänden und dem SAC über die drei grossen Wasserkraftprojekte im Oberhasli, ganz im Osten des Berner Oberlands, diskutiert. Es geht um ein neues Wasserkraftwerk in der Trift, die Erhöhung der Staumauer des Grimselsees und die noch nicht im Detail geplante Vergrösserung des Oberaarsees. Letzte Woche wurde die Einigung verkündet: Die beteiligten Verbände bekämpfen die geplanten Wasserkraftprojekte nicht (mehr). Im Gegenzug verpflichten sich Kanton und KWO zu zusätzlichen Ersatz- und Ausgleichsmassnahmen, also solchen, die über das gesetzlich vorgeschriebene Minimum hinausgehen.
Eine lange Geschichte
Ersatz- und Ausgleichsmassnahmen? Das klingt erst einmal technisch. Die Grundlage dafür ist im Natur- und Heimatschutzgesetz verankert: Wenn sich eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Lebensräume nicht vermeiden lasse, sei der Verursacher zuständig. Er müsse für «Massnahmen zu deren bestmöglichem Schutz, für Wiederherstellung oder ansonst für angemessenen Ersatz» sorgen.
Die Frage dahinter ist allerdings nicht technisch, eher philosophisch: Lassen sich beeinträchtigte oder zerstörte Naturräume ersetzen? Lassen sich Schäden kompensieren, indem man woanders den Raum aufwertet, zum Beispiel ein Gewässer aus seinem Korsett befreit oder ein Stück Landschaft unter Schutz stellt?
Nein, meint der Grimselverein. «Für uns ist das ein inakzeptabler Ablasshandel», sagt Nick Röllin. Der Verein hat Beschwerde gegen die Konzessionserteilung für das Kraftwerk Trift eingereicht. Sie ist noch hängig. Die Umweltverbände, die den Dialog fortgesetzt haben, haben sich hingegen auf die Logik von Ersatz und Ausgleich eingelassen. Das sind neben der Stiftung Landschaftsschutz auch Pro Natura, der WWF, die Gewässerschutzorganisation Aqua Viva und der Bernisch Kantonale Fischerei-Verband.
Die Konflikte um die Wasserkraft im Oberhasli haben eine lange Geschichte. Seit 1999 möchten die KWO die Staumauer des 1932 fertiggestellten Grimselsees erhöhen (nachdem ein noch viel grösser geplanter Ausbau gescheitert war). Umweltverbände gingen gegen die Erhöhung bis vor Bundesgericht, denn mit ihr würden Teile einer Moorlandschaft von nationaler Bedeutung und das wilde, ökologisch wertvolle Vorfeld des Unteraargletschers überflutet (siehe WOZ Nr. 42/23). Das Gebiet gehört zudem zu einer Landschaft von nationaler Bedeutung.
Die Trift im Gadmertal liegt hingegen nicht in einem Schutzgebiet, doch die Landschaft ist intakt: ein Talkessel, in dem sich ein natürlicher Gletschersee gebildet hat, bis heute nur zu Fuss erreichbar.
Beide Wasserkraftprojekte gehören zu den sechzehn im Anhang des Stromgesetzes, die bevorzugt gebaut werden sollen. Alle grossen Umweltverbände haben inzwischen den Widerstand gegen sie aufgegeben. Der Druck aus Politik und Medien war in den letzten Jahren enorm: Wer den Ausbau der Wasserkraft kritisiert, gilt schnell als Saboteur:in der Energiewende.
Ziegen und eine Stiftung
Das Resultat des «Grimseldialogs» sind Massnahmen im ganzen Kanton: Drei Gletschervorfelder werden besser geschützt, an der Emme sollen zwei Kleinkraftwerke rückgebaut werden, an der Simme das Wehr bei Wimmis. Die KWO gründen eine Stiftung für weitere Naturschutzarbeit, und für die Pflege von artenreichen Steilhängen ist ein Projekt mit Ziegenbeweidung geplant. Ausserdem wird an 53 Fliessgewässern – oder Abschnitten davon – auf neue Wasserkraftnutzungen verzichtet.
Nick Röllin überzeugt das nicht: «All diese Massnahmen sind wahrscheinlich sinnvoll – aber sie wären nötig als Ausgleich für Schäden aus der Vergangenheit, nicht für zukünftige Schäden. Natürlich ist es gut, wenn man am Steingletscher die Besucher besser lenkt, aber das ist doch kein Ersatz für die Zerstörung der Trift!» Es deprimiere ihn auch, dass der Verzicht auf die Nutzung von Gewässern als Erfolg gewertet werde. «Der verbessert überhaupt nichts, er bewahrt nur den aktuellen Zustand.»
Rahel Marti von der Stiftung Landschaftsschutz versteht diese Kritik: «Das stimmt, es ist keine Verbesserung, sondern der Schutz vor einer Verschlechterung. Und an vielen dieser Gewässer wären neue Kraftwerke schon mit der kantonalen Wasserstrategie 2010 nicht oder kaum möglich gewesen.» Trotzdem steht sie hinter den Ergebnissen des Dialogs: «Wir haben eine detaillierte Methode entwickelt, wie der Zustand von Landschaft und Ökologie vor und nach einem Eingriff einzustufen ist, damit eine relativ objektive Bewertung möglich wird.»
«Ausbau hat Grenzen»
«95 Prozent des Wasserkraftpotenzials werden in der Schweiz schon genutzt», sagt Salome Steiner, Geschäftsleiterin der Gewässerschutzorganisation Aqua Viva. «Wir sollten respektieren, dass der Ausbau Grenzen hat.»
Trotzdem hat sich Aqua Viva auf den «Grimseldialog» eingelassen. Jahrelang wehrte sich die Organisation gegen die Erhöhung der Grimselstaumauer und das Triftprojekt. Ihre Beschwerde gegen Letzteres zog sie erst im Juli zurück. Das sei Aqua Viva nicht leichtgefallen, sagt Steiner. Die Trift sei wunderschön und ein Refugium für viele Tiere und Pflanzen. «Wir haben auf die politische Situation reagiert, auf den Druck im Parlament, das Verbandsbeschwerderecht der Umweltorganisationen einzuschränken. Es war unser Angebot, wieder in einen konstruktiven und rechtsstaatlich korrekten Dialog zu kommen.» Schliesslich seien auch Aqua Viva Energiewende und Klimaschutz wichtig.
Wie Rahel Marti beschreibt auch Steiner den «Grimseldialog» als positiv: «Er war wertschätzend und transparent. Und ich konnte mich auch deshalb gut darauf einlassen, weil niemand der Beteiligten die Schönheit und den ökologischen Wert dieser Landschaften infrage gestellt oder kleingeredet hat.»
Der Grimselverein ist Kollektivmitglied bei Aqua Viva. Die letzte Generalversammlung des Vereins sei emotional gewesen, erzählt Nick Röllin. «Klar sind wir sehr enttäuscht von Aqua Viva und über solche Deals, die immer mehr zur Normalität werden.» Er finde es aber wichtig, die Verbindung aufrechtzuerhalten. «In den Zielen und Anliegen sind wir uns einig. Der Unterschied liegt in der Strategie.» Er habe kein Interesse, andere Organisationen der Umweltbewegung schlechtzumachen. «Sie sind immer noch meine nächsten Verbündeten. Trotzdem: Rote Linien sollten rot bleiben.»