Politische Theorie: Das ist unser Pol

Nr. 51 –

Nimmt die Polarisierung zu, und gefährdet das die Demokratie? Nein und nein, behauptet der Soziologe Nils Kumkar. Das Problem sieht er woanders.

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Eisenspäne, welche durch ein Magnetfeld angeordnet werden
Wo gehts hier zur Fundamentalopposition? Magnet mit Eisenspänen. Foto: Alamy

Dass die gesellschaftliche Polarisierung zunehme, ist die vielleicht am wenigsten polarisierende Aussage unserer Zeit. Jüngstes Beispiel: Laut dem kürzlich veröffentlichten «Polarisierungsbarometer» der Technischen Universität Dresden nehmen 81 Prozent der Befragten die deutsche Gesellschaft als «gespalten» wahr. Bei keiner anderen Frage waren sich so viele einig. Zu einem ähnlichen Befund kam im Juni 2025 die Schweizer Stiftung Mercator: Gemäss einer Studie zur Polarisierung in der Schweiz empfinden 70 Prozent der Befragten, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in den letzten Jahren abgenommen habe.

Dass der Kapitalismus mit gespaltenen Gesellschaften einhergeht, ist für Linke nicht neu. Doch um Klassenunterschiede und andere Ungleichheiten geht es meist gar nicht, wenn der Gegenwart bescheinigt wird, sie sei besonders polarisiert. Aber um was dann?

Diese Frage steht am Anfang des neuen Buches von Nils Kumkar. Der Bremer Soziologe, der in «Alternative Fakten» (2022) schon den vielzitierten «Fake News» kritisch nachspürte, stellt in «Polarisierung» zunächst einmal fest: Nachweisen lässt sich eine zunehmende Spaltung anhand von Einstellungen zu «Sachfragen» nicht. Werden Positionen abgefragt, bilden sich selten zwei Lager heraus, die einander unversöhnlich gegenüberstehen; viel häufiger gibt es eine breite Zustimmung zu moderaten Haltungen. Und dann geht es oft auch noch kreuz und quer: Wer zum Beispiel für Frauenrechte eintritt, kann gleichzeitig migrationsfeindliche Positionen vertreten.

Weil aber alle Studien, die etwas anderes ergeben, offenbar nichts daran ändern, dass sehr viele Menschen die Gesellschaft als sehr polarisiert wahrnehmen, hat Kumkar sein Buch geschrieben. Ausdrücklich nicht, um Entwarnung zu geben, wie der Autor sich inzwischen klarzustellen gezwungen sah. Sondern zu Erkundungszwecken: Was hat es denn mit der wahrgenommenen Polarisierung auf sich, wenn weder Klassenkampf noch immer weiter auseinanderdriftende Einstellungen das «Problem» sind? Was gibt es also zu sehen?

Kumkar sagt: ein kommunikatives Ordnungsmuster. Als Polarisierung erlebten Menschen nicht, dass die Meinungen heute stärker auseinandergehen würden als früher, so Kumkar, sondern vielmehr, wie diese unterschiedlichen Meinungen zueinander ins Verhältnis gesetzt würden. Einfacher gesagt: Viele Leute haben das Gefühl, dass man heute, wenn verschiedene Positionen aufeinandertreffen, nicht mehr miteinander reden könne, ohne dass es knallt. Diese «kommunikative Polarisierung», wie Kumkar es nennt, sei an sich weder gut noch schlecht; sie sei unvermeidbar, weil sie in der heutigen Demokratie die Fülle der uns umgebenden Diskurse sortiere.

Jetzt auch noch Lenin

Daher bringt es auch nichts, sich immerzu die Haare zu raufen wegen der Polarisierung. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass Kumkar dafür plädiert, den Status quo einfach achselzuckend hinzunehmen. Etwas bereitet ihm dann doch Sorge, nämlich dass «ausgerechnet die politische Rechte» in den letzten Jahrzehnten erfolgreich «den einen Pol des polarisierten Kommunikationsschemas» besetzt habe. Das Wörtchen «ausgerechnet» ist hier wichtig: Es verweist darauf, dass der Pol der Fundamentalopposition lange Zeit – bis um 1990 herum – von links besetzt war. Selbst dort, wo linke Parteien längst angepasst waren und keine revolutionäre Gefahr mehr von ihnen ausging, hatten sie die Aura der Systemgegner:innen auf ihrer Seite.

Heute hat diesen Platz die extreme Rechte eingenommen, und alle anderen sind in einer Zwangsgemeinschaft auf dem Gegenpol versammelt. Dafür haben Rechte nicht nur den marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci für sich entdeckt, sondern, wie Kumkar anhand des US-Libertären Murray Rothbard und des ehemaligen Trump-Beraters Steve Bannon nachzeichnet, auch «Lenin». Gemeint ist eine Strategie, den Staat mithilfe einer Massenpartei zu zerstören – so wie es von rechts heute etwa die Republikaner:innen tun.

Die Folgen für die kommunikative Polarisierung kann man täglich besichtigen. Beispiel Deutschland: Alle richten sich nach der AfD aus, man kann nicht nicht über sie reden, da sie der Angstgegner der anderen Parteien ist. In der Schweiz ist es die SVP, der es immer wieder gelingt, die Parteien vor sich herzutreiben.

Die grosse Umpolung

Aus den Argumenten, die er sorgfältig (manchmal etwas umständlich) auseinanderfaltet, zieht Kumkar am Ende eine logische Schlussfolgerung: Wer etwas an der heutigen Situation ändern will, muss aufhören, die Polarisierung zu beklagen, und selbst zum Polarisierer werden, muss «ein anderes Nein» formulieren, um so den Rechten den Platz auf dem Pol der Fundamentalopposition streitig zu machen. Das ist leichter gesagt als getan.

Exemplarisch wurde dies im Mai 2025 deutlich, als Friedrich Merz im ersten Wahlgang als Bundeskanzler durchfiel – ein in Deutschland absolut ungewöhnlicher Vorgang. Damals ermöglichte Die Linke einen zweiten Wahlgang noch am selben Tag. Hätte sie sich verweigert, wären einige Tage bis zum nächsten möglichen Wahltermin im Bundestag vergangen. Es drohte eine «Staatskrise», von der – wie viele Kommentator:innen damals behaupteten – «nur die AfD» profitieren würde. Die Linke zeigte sich gesprächsbereit und stimmte dem zweiten Wahlgang zu, der dann Merz zum Kanzler machte.

Disruptiv agieren oder konstruktiv mitarbeiten, Spielregeln missachten oder respektieren? Selbst Linke, die grundsätzlich bereit sind, die AfD vom Pol der Fundamentalopposition zu verdrängen, stehen vor dem Problem, dass sie nicht unter Laborbedingungen agieren, sondern in der realen Welt, in der die extreme Rechte bereits stark ist. Konkretes Beispiel: Nächstes Jahr könnte in Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt die Linkspartei vor der Wahl stehen, Fundamentalopposition zu sein, um die AfD mittelfristig zu schwächen, oder aber mit den anderen Parteien gegen die AfD ein Bündnis zu schliessen, um unmittelbar zu verhindern, dass diese an die Regierungsmacht kommt. Beides geht nicht gleichzeitig – ein echtes Dilemma.

Aus solchen Zwickmühlen hilft auch Kumkars Buch nicht heraus. Doch könnte die Rezeption von «Polarisierung» den nächsten Dreh in der Debatte darüber einläuten, welche Art von linker Politik in der Lage ist, die Rechten zu schrumpfen. Vor zehn Jahren kursierten dazu Schlagworte wie «Klassenpolitik» und «Populismus». Dass Erstere durchaus funktioniert, zeigt etwa der Erfolgskurs der Partei der Arbeit in Belgien, aber auch der Bundestagswahlkampf der Linkspartei oder die Kampagne von Zohran Mamdani in New York, die sich um soziale Forderungen drehte. Kaum jemand würde heute bestreiten, dass «richtig polarisieren» auch bedeutet, mit dem Finger auf Milliardär:innen und Vermieter:innen zu zeigen, wenn andere über Ausländer:innen und Bürgergeldempfänger:innen schimpfen, um so die Konfliktachsen zu verschieben.

Doch Kumkars Buch hinterlässt eben auch die Ahnung, dass das noch nicht das ganze Rezept ist, dass ein Mietendeckel und bessere Löhne allein den Rechten nicht das Wasser abgraben werden. Sondern dass Linke dafür – Chiffre «Lenin» – selbst zum Angstgegner der anderen Parteien werden müssen, zu nicht integrierbaren Systemsprengern, die als Bedrohung für das bestehende System erscheinen. Etwas, das mit konstruktiver Zusammenarbeit in den Parlamenten oder der Verteidigung jener Institutionen, die von rechts bedroht werden, nur schwer vereinbar ist.

Kumkar wird nun häufiger nach konkreten Handlungsanweisungen für Linke befragt – eine Rolle, in der er sich offenkundig unwohl fühlt. So wies er in einem Interview darauf hin, dass sein Buch keineswegs mit eindeutigen Antworten, sondern fragend schliesse. Und es stimmt. Die Fragen, mit denen er seine Leser:innen zurücklässt, lauten: Was wäre eine Strategie, die mit dem Widerspruch umgehen kann, disruptiv sein zu wollen und gleichzeitig Bestehendes vor rechter Zerstörung schützen zu müssen? Aber auch: Was, wenn es nicht gelingt, den von rechts besetzt gehaltenen Pol zurückzuerobern?

Buchcover von «Polarisierung. Die Ordnung der Politik»
Nils C. Kumkar: «Polarisierung. Die Ordnung der Politik». Suhrkamp Verlag. Berlin 2025. 290 Seiten.