Abstimmungskommentare

Machtpolitik: Ein Bundesrat von gestern

Die Annahme der 13. AHV war ein sozialer Weckruf, die Ablehnung des Autobahnbaus ist das ökologische Ausrufezeichen dahinter: In der Schweizer Politik werden jahrzehntealte Gewissheiten erschüttert.

Illustration von Ruedi Widmer
Illustration: Ruedi Widmer

Es ist mucksmäuschenstill, obwohl sich fast hundert Menschen im Restaurant Grosse Schanze in Bern versammelt haben. In ihrer Mitte steht die Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone, die mal skeptisch, mal vorfreudig auf die Leinwand schaut. Um 12.30 Uhr, bei der ersten Hochrechnung, springt sie in die Luft und jubelt gemeinsam mit ihren Mitstreiter:innen von der SP sowie den Verkehrsverbänden: Der Ausbau des Schweizer Autobahnnetzes wird gemäss Hochrechnung mit 52 Prozent Nein-Anteil abgelehnt. «Das ist eine Sensation für die grüne Bewegung und eine Absage an diesen No-Future-Bundesrat», sagt Mazzone.

Gedämpft ist die Stimmung derweil im «Äusseren Stand» unter den bürgerlichen Befürworter:innen. Er sei trotz der knappen Umfragen zuversichtlich gewesen, am Ende noch zu gewinnen, meint FDP-Präsident Thierry Burkart zu einem SRF-Journalisten. Auf die Frage der WOZ, was er denn zu all den Niederlagen der Bürgerlichen in diesem Jahr sage – angefangen beim Ausbau der AHV über die Verhinderung einer unsozialen Pensionskassenreform bis hin zu dieser unerwarteten Niederlage bei der Autobahn – sagt Burkart leicht genervt, er habe ja immerhin die Krankenkassen-Initiative der SP gebodigt. Dann eilt er auch schon davon.

Das linke Erfolgsjahr

Burkarts Ausrede sagt viel aus über den Zustand der rechten Mehrheit in Bundesrat und Parlament. Sie hat offenkundig den Draht zur breiten Bevölkerung verloren. Dass an diesem Abstimmungssonntag auch noch zwei Vorlagen zur Verschlechterung des Mietrechts abgelehnt werden und die Gewerkschaften mit ihrem Referendum zur Gesundheitsfinanzierung trotz des Scheiterns einen Achtungserfolg erzielen, schliesslich war nicht einmal die Linke geschlossen dagegen: Es passt alles ins Bild, dass 2024 im sonst bedächtigen Schweizer Politsystem jahrzehntealte Gewissheiten erschüttert werden.

Die Behauptung etwa, dass sich die AHV in Zukunft nicht finanzieren lasse, als wäre das ein Naturgesetz. Im Widerspruch dazu hat die Stimmbevölkerung im Frühling einen Ausbau beschlossen und ein höheres Rentenalter verworfen. Die Gewissheit aber auch, dass die Bevölkerung das Auto und seine immensen Auswirkungen aufs Klima und die Innenstädte nicht hinterfragen und deshalb auch überholte Strassenkonzepte aus dem 20. Jahrhundert abnicken würde. Wenn das Ja zur 13. AHV diesen Frühling ein sozialer Weckruf war, dann ist das Nein zum Autobahnbau das ökologische Ausrufezeichen dahinter.

Abgehoben in der Limousine

Der grosse Verlierer dieses Politjahrs ist der Bundesrat und insbesondere der rechtsbürgerliche Machtblock um SVP-Verkehrsminister Albert Rösti und FDP-Finanzministerin Karin Keller-Sutter. Rösti hatte den Abstimmungskampf zu seinem persönlichen Prestigeprojekt gemacht, doch er wurde bei all seinen Auftritten mit der schwarz glänzenden Bundesratslimousine zum perfekten Abstimmungshelfer der Linken: Selten wirkte ein Bundesrat so abgehoben und selbstgefällig wie der Vertreter der angeblichen Volkspartei. Aber auch für Finanzministerin Keller-Sutter ist das Resultat unbequem: Mit ihrem Sparpaket, das weit mehr ideologischer Zwängerei als volkswirtschaftlicher Notwendigkeit geschuldet ist, lieferte sie das beste Argument für die Gegner:innen: Wenn schon sparen, dann doch am besten gleich beim Beton für die Autobahn.

In den meisten Medien heisst es ob der Abstimmungsresultate in diesem Jahr regelmässig, das Vertrauen in den Bundesrat sei erschüttert. Doch das ist eine ungenaue Formulierung. Erschüttert ist weniger das Vertrauen in die Regierung, sondern dasjenige in ihre Politik. Im Gegensatz zum Bundesrat und im Übrigen auch zum Parlament mit all seinen Wirtschaftslobbyist:innen will eine Mehrheit in der Schweiz offenkundig eine sozialere und eine ökologischere Politik. Karin Keller-Sutter dürfte mit ihrem Sparpaket, diese Prognose lässt sich schon jetzt machen, in der Bevölkerung einen sehr schweren Stand haben. Dass FDP und SVP in dieser Legislatur ihren Kurs noch ändern, ist kaum anzunehmen. Mutmasslich dürften sie stattdessen mit der Hatz gegen Migrant:innen und Geflüchtete weiterhin davon ablenken, dass sie keine mehrheitsfähigen Vorlagen schmieden können.

Den Unmut richtig lenken

So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass ihre Vertreter:innen in ersten Analysen am Sonntag darauf verwiesen, das Nein zur Autobahnvorlage sei vor allem auch eines gegen das Wachstum des Landes und die Einwanderung. Auch die Gegner:innen des Ausbaus berichten durchaus von Gesprächen mit SVP-Wähler:innen auf der Strasse, die ihre Ablehnung mit einem diffusen Unmut begründeten, der sich Schweizerdeutsch am treffendsten ausdrücken lässt: «Es langet!» Gewiss mögen auch manche Stimmbürger:innen egoistisch abgestimmt haben, weil ihre Region nicht von den Ausbauten profitieren sollte.

Den Erfolg der Linken schmälert das alles nicht. Denn einerseits liegt der Hauptgrund für ihren Triumph sowieso in der Mobilisierung der eigenen Basis. Und andererseits gehört es immer zum politischen Geschäft, den Unmut der Gegner:innen auf die eigene Mühle zu lenken. Dass kommende Abstimmungen anspruchsvoll werden, etwa die über die SVP-Initiative zur Aufkündigung der Personenfreizügigkeit, ist schon lange bekannt. Der überraschende Sieg gegen den Autobahnausbau, von dem viele Linke kaum zu träumen wagten, hat aber auch in dieser Hinsicht eine Botschaft parat: Wenn man politische Auseinandersetzungen entschieden führt, ohne dabei eigene Positionen preiszugeben, dann können noch immer Überraschungen gegen den vermeintlichen Zeitgeist gelingen.

PS: Apropos Zeitgeist: Eine Stadtzürcher Initiative gegen den Genderstern in der behördlichen Kommunikation wurde an diesem Sonntag ebenfalls abgelehnt. Noch ein Hinweis, dass die Bevölkerung etwas weiter ist, als es sich die rechten Parteien und in Zürich das lokale Kulturkampfblatt NZZ so denken.