Blog vom G20-Gipfel

Protokoll einer Eskalation

In der engen Strassenschlucht am Hamburger Hafen: Die Demonstration setzt sich durch.

Am Ende hat die Hamburger Polizei die gewünschten Schlagzeilen bekommen. Wochenlang hatte sie «8000 Militante» und den «grössten schwarzen Block aller Zeiten» herbeigeschrieben, hatte vor Eskalationen bei der antikapitalistischen «Welcome to Hell»-Demonstration, vor vermummten KrawallmacherInnen, brennenden Autos und Barrikaden gewarnt, hatte versucht den Protest zu delegitimieren. Der Donnerstag Abend wurde zur selbsterfüllenden Prophezeiung.

Am Nachmittag herrscht auf dem Fischmarkt gelöste Stimmung. Bei strahlendem Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen berichten AktivistInnen aus Mexiko, Russland und den USA, der Goldene-Zitronen-Sänger Schorsch Kamerun wünscht den zu dieser Zeit mehreren Tausend DemonstrantInnen «einen erfolgreichen Abend», die Hamburger Band Neonschwarz übt Kapitalismuskritik in Rapform. Aus den Lautsprechern ertönen die Nummer des anwaltlichen Notdiensts und Verhaltenstipps bei Festnahmen. «Sagt der Polizei Namen und Wohnort, sonst nichts.» In einer Volksküche wird Kartoffelgulasch mit Tofuwurst serviert, an einem Wagen gibt es «Kaffee gegen Spenden». Nach der «gewalttätigsten Demonstration» der Gipfeltage sieht es hier nicht aus.

Bildet Ketten!

Um 19 Uhr soll es losgehen, kurz zuvor formiert sich die Demonstration langsam auf der Hafenstrasse, ein geschlossener schwarzer Block in Kettenformation, KurdInnen, pinkgekleidete Samba-Trommlerinnen, ein bunter Haufen von etwa 12000 Leuten. Aussenrum steht die Polizei bereit, behelmte Hundertschaften in Zweierreihen rahmen den Umzug ein, dahinter auf beiden Seiten Mauern, Wasserwerfer und Räumpanzer versperren vorne den Weg – obwohl die Demonstration bewilligt war, es von Seiten der Behörden keinerlei Auflagen gab. Die Aufstellung in der Hafenstrasse ist eine Falle. Aus den Lautsprechern dröhnt laute Musik, dazwischen immer ungehaltener werdende Statements. Die Veranstalter bitten die Polizei, den Weg freizugeben, diese will den Zug wegen «Tausend Vermummten» nicht loslaufen lassen. Es sind deutlich weniger. Beinahe eine Stunde vergeht, die Stimmung wird immer angespannter. Im schwarzen Block legen die meisten ihre Vermummung ab, aus den geschlossenen Reihen ertönen Rufe, die Polizei unter keinen Umständen anzugreifen.

Dann greift die Polizei selbst an. Sie stürmt mitten in die Demonstration rein – angeblich, weil Hunderte DemonstrantInnen noch immer vermummt waren. Die Polizei setzt Schlagstöcke ein, versprüht Reizgas. Die Protestierenden bilden Ketten, lassen sich nicht in «friedliche» und «gewaltbereite» DemonstrantInnen spalten, wie es die Strategie der Polizei vorgesehen hatte. Panik bricht aus in der engen Strassenschlucht, die Polizei drückt die DemonstrantInnen an die Seitenmauer, Leute klettern über Geländer, flüchten sich auf Treppen, rennen in unterschiedliche Richtungen. Flaschen fliegen in Richtung der Polizei, diese prügelt wahllos auf DemonstrantInnen ein.

Nach diesen chaotischen Szenen, nach dem ersten Schock, findet sich die Demonstration neu. Minutenlang sieht es aus, als würden die Protestierenden die Polizei vor sich herdrängen. Die Leute holen sich die Strasse zurück. Nach langen Verhandlungen wird die Strasse freigegeben. Aus den Boxen dröhnt wieder wummernder Techno, die Leute skandieren «A, Anti, Anticapitalista!» oder «Ganz Hamburg hasst die Polizei». Und: «Wir sind friedlich, was seid ihr?». Die Sprüche werden an diesem Abend noch oft zu hören sein. Parallel startet in St. Pauli eine spontane zweite Demonstration mit geschätzten tausend Leuten.

Solidarität statt Spaltung

Als der Umzug auf der Reeperbahn ankommt: wieder Pfefferspray, BeamtInnen, die ohne ersichtlichen Grund drauflos stürmen, Umstehende rücksichtslos zur Seite drängen. Weil sie sich von der Polizei «nicht weiter schikanieren lassen wollen», lösen die Veranstalter die Demonstration an diesem Punkt auf. Weiter geht es bei mehreren spontanen Aktionen im und rund ums Schanzenviertel, vor dem autonomen Kulturzentrum Rote Flora, das schon vor ein paar Jahren zum Schauplatz brutaler Polizeigewalt wurde, brennen kleine Barrikaden. Andernorts setzt die Polizei bereits wieder wahllos Wasserwerfer ein – noch während aus dem Wagen die Ansage kommt, die Strasse zu räumen.

Die gesamte Nacht kreisen Helikopter über dem Kiez, dröhnen Polizeisirenen. Die Polizei spricht heute von über hundert verletzten BeamtInnen, von 29 Festnahmen, von 15 Leuten in Gewahrsam. Auf Seiten der DemonstrantInnen sind laut den Veranstaltern 14 Personen verletzt, davon drei schwer, eine Person befindet sich in einem kritischen Zustand. Die Protestbewegung zu spalten ist den Behörden nicht gelungen. «Friedlicher Protest sieht anders aus», hatte die Polizei gestern Abend per Twitter verkünden lassen. Eine Strategie der Deeskalation allerdings auch. Langsam ändern sich auch die Schlagzeilen: Polizei und Politik geraten zunehmend in die Kritik.