G20 – ein Jahr danach: Die Stadt als Kampfzone

Nr. 28 –

War der massive Polizeieinsatz in Hamburg Vorbote einer neuen Sicherheitspolitik? Oder Ausdruck einer Auseinandersetzung, die in den europäischen Ballungsgebieten längst stattfindet? Ein paar rückblickende Gedanken zu den Ereignissen im Juli 2017.

«Der G20-Gipfel wird ein Schaufenster moderner Polizeiarbeit sein»: Diese Ankündigung machte Hamburgs amtierender Innensenator Andy Grote wenige Wochen bevor sich die VertreterInnen der zwanzig grössten Industrienationen in der Hansestadt versammelten. Ein Jahr ist das nun her. In der nachträglichen Betrachtung lässt Grotes Aussage vieles, was rund um das Treffen passierte, in einem neuen Licht erscheinen.

Mehr als 31 000 PolizistInnen aus Deutschland und dem benachbarten Ausland wurden in diesen warmen Tagen im Juli 2017 nach Hamburg beordert, 600 Spezialkräfte und 3000 Einsatzfahrzeuge, Räumpanzer und Pferdestaffeln, mehrere Dutzend Wasserwerfer, die ihre Kraft bei jeder sich bietenden Gelegenheit demonstrierten. Einen so massiven Polizeieinsatz hatte es in der ganzen deutschen Nachkriegsgeschichte vorher nie gegeben. Enorm waren auch die Kosten für den deutschen Staat: insgesamt rund 150 Millionen Euro. Und die Auswirkung auf Hamburg: Mitten im Zentrum der Grossstadt wurden im Zuge der Veranstaltung 38 Quadratkilometer zur «roten Zone» erklärt, in der die demokratischen Grundrechte praktisch ausser Kraft gesetzt waren, zum Gebiet, in dem Widerstand verboten war.

Im «diktatorischen Polizeistaat»

Wer – wie die Reporterin – vor und während der Gipfeltage in Hamburg unterwegs war, wähnte sich in einer dystopischen Kulisse: überall der nervöse Rotorenlärm der Helikopter, der auch nachts nicht verstummte und den BewohnerInnen und Gästen der Stadt den Schlaf raubte; Blaulicht und die Sirenen der Polizeiwagen, die gepanzerte Autokolonnen durch die Stadt dirigierten; leer gefegte Strassen und zuweilen eine gespenstische Stille; ein hoch militarisierter Sicherheitsapparat, der laufend zur Schau gestellt wurde. Eine ganze Stadt im Ausnahmezustand. Eine Stadt, in der der öffentliche Raum nicht mehr existierte. «Eine Szenerie wie in einem diktatorischen Polizeistaat» nannte die Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke die Situation in einem kürzlich erschienenen Dokumentarfilm. «Eine Geisterstadt, in der die Polizei ohne Bürger ihre Kräfte verschob», beschrieb das «Komitee 17» aus Zeuginnen, Aktivisten und Beobachterinnen den tagelangen Zustand in einem Buch.

Viele, die vor Ort waren, haben die Tage im Juli bis heute nicht vergessen. Und in den vergangenen Monaten kamen immer neue Details ans Licht, die das Verhalten der Polizei in Zweifel zogen. Während Hamburgs damaliger Bürgermeister Olaf Scholz – inzwischen Finanzminister in Berlin – bis zum Schluss behauptete, es habe keine Polizeigewalt gegeben, dokumentieren unzählige Fotos und Videoaufnahmen Übergriffe durch die Einsatzkräfte. Und die vielen AugenzeugInnenberichte verdeutlichen, dass es sich dabei um weit mehr als um Einzelfälle gehandelt haben muss. Kürzlich wurde zudem bekannt, dass sich an der antikapitalistischen «Welcome to Hell»-Demonstration am Donnerstagabend mehrere PolizistInnen vermummt unter die Protestierenden gemischt hatten. Die Behörden lösten die Kundgebung mit Gewalt auf, weil sich die DemonstrantInnen geweigert haben sollen, ihre Vermummung abzunehmen. Dutzende Menschen wurden verletzt, als die Einsatzkräfte ohne Ankündigung mitten in die Menge stürmten. Auch wenn sich vieles noch nicht vollständig rekonstruieren lässt: Die Rechtsbrüche seitens der Polizei werden die deutsche Politik noch eine Weile beschäftigen.

Protest oder Terrorismus?

Abgesehen davon bleibt die Frage nach der Einordnung: War der Einsatz der Behörden der Auftakt zu einer Art Post-G20-Strategie, die linken Widerstand kriminalisieren soll? Für diese These spricht die Zunahme der Repression im Anschluss an den Gipfel – von dem Verbot der deutschen Plattform «linksunten.indymedia» und dem Einsatz eines Onlineprangers über die vielen Gerichtsprozesse und internationalen Razzien gegen linke AktivistInnen bis zum überzogenen Einsatz von Spezialeinheiten bei einer antifaschistischen Demonstration im sächsischen Wurzen zwei Monate nach dem Gipfel. «Die Politik überlässt der Polizei das Feld, um mit paramilitärischen Mitteln Aufruhr in Teilen der Bevölkerung zu unterdrücken. Aufbrechenden gesellschaftlichen Konflikten wird anstelle von politischen Auseinandersetzungen mit dem Griff in den Werkzeugkasten autoritärer Staatlichkeit begegnet», fasst der Autor Martin Kirsch in einem Aufsatz die Situation zusammen.

Interessant ist der Rückblick auf den G20-Gipfel allerdings auch im Licht einer Auseinandersetzung, die in den heutigen Grossstädten längst zum Alltag gehört. Vielerorts verschwimmt die Trennung zwischen Militär und Polizei, verwischen die Unterschiede zwischen Antiterroreinsatz und der Niederschlagung von Protest. So wird die Stadt zur Kampfzone – und Widerstand wird schnell als Aufstand wahrgenommen. Zu sehen war dies in Hamburg etwa, als bewaffnete Einheiten nachts das Schanzenviertel stürmten. Nicht erst seit den Anschlägen in Paris rechtfertigt der «Krieg gegen den Terror» eine massive Aufrüstung. «Die medial vermittelten Horrorszenarien von schiesswütigen Attentätern haben eingängige Bilder geliefert, um die Finanzmittel zu mobilisieren, mit denen Prozesse massiv beschleunigt wurden», schreibt Kirsch.

In seinem Buch «Cities Under Siege» beschreibt der britische Stadtforscher Stephen Graham, wie Städte in den letzten Jahren immer mehr zu Orten der Unsicherheit und Gefahr stilisiert würden. Ereignisse wie Gipfelproteste – die vor Hamburg übrigens jahrelang nicht mehr in Ballungsgebieten stattgefunden hatten – würden in diesem Gefüge zu «Schaufenstern für einen neuen militarisierten Urbanismus», der militärische Strategien und die entsprechende Ausrüstung in zivile Konflikte übertrage. «Während die Stadt etwa als Ort der Vielfalt gilt, begreifen Militär und Sicherheitsdienste sie vor allem als einen problematischen und schwer zu kontrollierenden Raum mit unübersehbaren Bevölkerungsmassen, mit einer Vielzahl von oppositionellen Bestrebungen und staatsfeindlichen Aktivitäten», so Graham. Als Folge würden die Grenzen zwischen militärischen Anwendungsbereichen der Technologien vermischt, militarisiere sich die Stadt selbst.

Personal für den Häuserkampf

Was Graham meint, zeigt nicht zuletzt ein Nato-Bericht aus den nuller Jahren, in dem es um «urbane Kriegsführung» geht. Zukünftig könnten in den Städten «Spannungen» entstehen, die «Interventionen der Behörden notwendig machten», heisst es darin. In dem Papier werden Strategien präsentiert, wie mit der Gefahr umzugehen ist: Das Personal muss für den Häuserkampf geschult werden.

Seit Jahren schon werden zu diesem Zweck Attrappenstädte genutzt: in der israelischen Wüste, in Britannien und Frankreich. Auch in Deutschland entsteht auf sechs Quadratkilometern eine millionenschwere Kampfübungsstadt. Ein «urbaner Ballungsraum» mit Hunderten Gebäuden, Sportanlagen, Brücken und einer Kanalisation, einem Industriegebiet, Altstadt und Regierungsviertel. Gebaut wurde sie, um «Soldaten für Einsätze in bebauten Gebieten optimal vorzubereiten», wie die Bundeswehr in einer Pressemitteilung schreibt.

Der G20-Gipfel in Hamburg, das lässt sich rückblickend sagen, war ein Schaufenster dieser fortschreitenden Militarisierung des Urbanen. Doch die Tage im Juli 2017 waren gleichzeitig auch ein Beispiel für erfolgreiche Gegenstrategien. Wie eine andere Stadt zukünftig auch aussehen kann, zeigte sich etwa im Arrivati-Park zwischen Schanzenviertel und St. Pauli. Dort wurden alle BesucherInnen mit einem Slogan empfangen: «Die freie Stadt der Zukunft gehört keiner Nation an.»