Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Die Grenze der Solidarität

Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen – Waffen in die Ukraine bringen: Polen spielt im Krieg eine wichtige Brückenrolle. Doch das Land könnte ins Straucheln geraten.

Würde man die Hilfe, die bislang an die Ukrainer:innen geleistet wurde, nach Staaten klassifizieren: Polen würde unbestritten zur Spitze zählen. Die Unterstützung umfasst die Aufnahme von über 1,3 Millionen Flüchtenden, Hunderte Hilfstransporte aus Polen in die Ukraine, die Lieferung defensiver Waffen wie auch Sanktionsforderungen, die mit am schärfsten in Warschau formuliert werden.

Am Mittwoch aber ist Polens Vorschlag, der ukrainischen Luftwaffe gut zwei Dutzend Mig-29-Kampfflugzeuge aus Beständen der polnischen Streitkräfte zu überlassen, von den USA und anderen Nato-Staaten abgeschmettert worden. Der Warschauer Plan sah vor, die Flieger über die US-Basis in Ramstein an die Ukraine zu liefern; im Gegenzug würde Polen gebrauchte US-Kampfjets erwerben. Doch die USA winkten ab, da der Vorgang «zu einer erheblichen russischen Reaktion führen [könnte], die die Aussichten auf eine militärische Eskalation mit der Nato erhöhen könnte», so Pentagon-Sprecher John Kirby.

Kollektive Sorge

Der Vorgang um die Kampfflieger zeigt: Die polnische Gesellschaft, aber auch die polnische Regierung sind nicht nur geografisch näher an der ukrainischen Tragödie als die meisten anderen Nato-Staaten. In Polen ist auch eine geschichtliche Erfahrung präsent, die bis in die Gegenwart fortwirkt: Die im Jahr 2022 überfallene Ukraine, so die verbreitete Wahrnehmung, gleiche der 1939 angegriffenen Zweiten Polnischen Republik. Polen wurde damals von den Alliierten – Frankreich und Grossbritannien – trotz Beistandsgarantien faktisch im Stich gelassen.

Die Erinnerung daran hat sich ins kollektive polnische Bewusstsein gebrannt, als Schmach der Westallierten, die man nicht noch einmal erfahren will. Zudem herrscht in Polen die Angst vor dem Szenario, künftig an eine russisch okkupierte oder von Russland dominierte Ukraine zu grenzen. Diese Angst war auch der Grund dafür, dass Polen die Lieferung der Mig-29-Flieger als Offensivwaffen keinesfalls im Alleingang, sondern nur «einstimmig innerhalb der Nato» vollziehen wollte. Ein Drittel der Menschen im Land sagten in einer Umfrage vom 5. März, der Krieg werde nach Polen überschwappen.

Beeindruckende Hilfe

Zwei Wochen nach Beginn des Krieges wird langsam deutlich, dass dessen Auswirkungen Polen ins Straucheln bringen könnten: ökonomisch und finanziell, auch wegen der Mammutaufgabe der Aufnahme der Flüchtenden. Das Land konnte die bislang knapp 1,3 Millionen Schutzsuchenden aus der Ukraine nur deshalb relativ konfliktfrei und menschenwürdig aufnehmen, weil die Leute an der Basis dies tun. Junge und alte Freiwillige, Vereine und Stiftungen, selbst Unternehmen: Sie alle organisieren Hilfe, nehmen die Flüchtenden vielfach in eigenen, privaten Unterkünften auf.

Diese beeindruckende Hilfe kaschiert dabei, wie überfordert die Zentralbehörden sind. Bislang meistern vor allem Gemeinden und Städte die Aufnahme der Flüchtenden – die einen gut, die anderen schlechter. Welches Verständnis indes die rechte PiS-Regierung von der Flüchtlingspolitik hat, zeigen jüngste Worte von Vizepremierminister Henryk Kowalczyk: «Es ist ein Verdienst der Regierung, dass es heute in Polen keine Flüchtlingslager gibt.» Tatsächlich muss die Regierung in Ermanglung entsprechender Strukturen darauf bauen, dass die Flüchtenden in Privatwohnungen von Pol:innen eine Unterkunft finden. Um dies zu unterstützen, hat sie mittels eines Sondergesetzes am Mittwoch privaten Gastgeber:innen umgerechnet 270 Franken pro Person und Monat zugesagt, wenn sie ukrainische Flüchtende aufnehmen.

Ungleiche Behandlung

Das Sondergesetz gibt ukrainischen Geflüchteten weitgehende Rechte: Sie können in Polen eine Arbeit aufnehmen, erhalten Sozialleistungen, ihr fester Aufenthalt ist für zunächst achtzehn Monate gesichert und kann bei Bedarf verlängert werden. Die Aufnahme von Geflüchteten stösst weiterhin auf eine grosse Zustimmung. Doch das wachsende Chaos, das neben funktionierender und wirklich solidarischer Hilfe sichtbar ist, macht immer mehr Pol:innen Sorgen, denn jeden Tag kamen zuletzt bis zu 140 000 Menschen über die Grenze.

Die grosse Mehrheit der Geflüchteten hat einen ukrainischen Pass, rund sechs Prozent stammen indes aus über hundert anderen Ländern. Für sie als nichtukrainische Staatsbürger:innen gilt das polnische Sondergesetz nicht – ebenso wenig wie viele andere Erleichterungen, etwa die kostenlose Nutzung von Fernzügen und Nahverkehr in vielen Städten. Das Gesetz, als solches solidarisch, notwendig und progressiv, ist also zugleich sehr diskriminierend. Doch dies geht im täglichen Strudel an Ereignissen auch in Polen unter.