Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Die Logik des Kollektiven

Über russische Musikerinnen, helvetische Ausladungen und die europäische Freiheit.

Die Cellistin Anastasia Kobekina wurde aufgrund ihrer russischen Staatsangehörigkeit von einem Konzert an der Kartause Ittingen im Thurgau ausgeladen – und dies nicht etwa aufgrund ihrer Haltung, denn sie hatte sich klar regimekritisch geäussert. In ihrer Erklärung schreiben die Veranstalter: «Weder wollen wir die Nähe von Musikerinnen und Musikern zu den Kriegsverantwortlichen einschätzen müssen, noch sollen Künstlerinnen und Künstler Statements abgeben müssen, mit denen sie unter Umständen nahestehende Menschen gefährden.» Das ist klug und vorsichtig, aber sich aus diesen Gründen für eine Absage des Konzerts zu entscheiden, erscheint mir wiederum unklug und gefährlich.

Russophobie bestätigt

Als unklug kann diese Entscheidung dabei schon aus rein praktischer Perspektive gelten, möchte Kobekina doch die Einnahmen aus einem anderen Konzert in die Ukraine spenden – das haben die Thurgauer Veranstalter in ihrem Fall nun verunmöglicht. Stattdessen möchten sie nach eigener Aussage «ein Zeichen setzen» und «Betroffenheit» ausdrücken: So bringt sich simplifizierte Symbolpolitik in einen Antagonismus zu realpolitischer Unterstützung.  

Gefährlich an derartigen Ausladungen ist ganz offensichtlich ihr pauschalisierender und antiindividualistischer, mithin kulturfeindlicher Charakter. Auch wenn ich den Veranstaltern keinen Rassismus unterstellen möchte, wird hier doch eine Person allein aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit ausgeschlossen.

Gefährlich ist auch, dass solche Sippenhaft nicht nur Menschen treffen wird, die sich aus verschiedensten Gründen nicht mit dem russischen Staat und dessen Kriegstreiberei identifizieren, sondern sogar jene, die hier in Europa vor putinschen Repressalien Schutz suchen. Die Zahl der Ukrainer:innen mit russischer Staatsangehörigkeit, der Russ:innen mit teilweise ukrainischen Wurzeln, der gemischten ukrainisch-russischen Familien ist enorm. Wollen europäische Konzertveranstalter vielleicht in Zukunft Stammbäume prüfen, bevor sie Verträge unterzeichnen? Und wann, möchte ich ganz ohne Übertreibung fragen, werden im deutschsprachigen Raum eigentlich wieder die ersten Jüdinnen ausgeladen, die schliesslich einen nicht unbeträchtlichen Teil der hiesigen Russ:innen ausmachen?

Gefährlich ist also vor allem, dass westliche Kulturvertreter:innen die blinde Logik des Kollektiven übernehmen, wie sie die nationalistische Gewalt erst legitimiert. Anstatt jener generalisierenden, entwürdigenden Stigmatisierung, der sich die russische Propaganda bedient, alternative Argumentationsmuster entgegenzusetzen, lassen sie sich auf das Niveau reaktionären, ja archaischen Gruppendenkens hinabziehen. Ganz nebenbei spielt dies den putinistischen Nationalisten wunderbar in die Hände, denn plötzlich sieht man ihre Warnungen vor der westlichen Russophobie aufs Schönste bestätigt.

Zu viel Mut verlangt

Derartige Implikationen dürften von den Thurgauer Ausladenden nicht reflektiert und auch nicht bewusst in Kauf genommen worden sein; dort scheinen Beklemmung, Unsicherheit und Zeitdruck die grösste Rolle gespielt zu haben. Dieser Unsicherheit nachzugeben, mag jedoch auch ein Symptom jener Bequemlichkeit darstellen, die wir uns inzwischen im Umgang mit schwierigen und auch nur vermeintlich schwierigen kulturellen Konstellationen angeeignet haben. Echte Freiheit aber ist immer unbequem.

Was mich daher unabhängig von der Causa Ittingen nicht bloss erstaunt, sondern bestürzt, ist die Mischung aus behaglicher Ignoranz und wohlfeiler Selbstherrlichkeit, mit der solche Bannsprüche in Westeuropa artikuliert und begründet werden. Denn zugleich ergeht sich doch ebendieses Europa heute in einer rhetorischen Dauerüberhöhung westlicher Freiheitswerte, die zu verteidigen angeblich selbst Menschenleben nicht zu schade sind – allerdings nur, solange es sich um die von Menschen in der fernen Ukraine handelt, während hierzulande auch nur ein halbherziges Bekenntnis zur Freiheit der Kunst von Kulturveranstaltern offenbar zu viel Mut verlangt.

* Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren, lebt als freier Autor in Aarau. Letztes Jahr erschien von ihm das «Handwörterbuch der russischen Seele». Mehr Infos auf www.estis.ch.