Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

's ist Krieg

«Wie geht’s?», fragte die Trauer die Hoffnung. «Ich bin etwas traurig», sagte die Hoffnung. «Hoffentlich», sagte die Trauer.

Wir wurden alle überrascht, zuerst von der Pandemie, dann von diesem Krieg, der sich wie Saharastaub vom Himmel in unsere Gemüter senkt und uns hilflos und sprachlos macht. Die Dichter allerdings haben es schon gewusst. 1778 hat Matthias Claudius geschrieben:

's ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel, wehre / Und rede du darein! / 's ist leider Krieg, und ich begehre / Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen / Und blutig, bleich und blass / Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen / Und vor mir weinten, was?

Wenn tausend, tausend Väter, Mütter, Bräute / So glücklich vor dem Krieg / Nun alle elend, alle arme Leute / Wehklagten über mich?

Es war, als er das schrieb, gerade kein Krieg, aber bald darauf sollte ein grössenwahnsinniger General, der sich zum Kaiser Frankreichs krönen liess, ganz Europa mit Krieg überziehen. Auch 1911, als der expressionistische Dichter Georg Heym sein Gedicht «Der Krieg» schrieb, war der grosse Krieg noch nicht ausgebrochen, aber sein Gedicht war wie eine Alarmsirene:

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief / Aufgestanden unten aus Gewölben tief / In der Dämmrung steht er, gross und unbekannt / Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

In den Abendlärm der Städte fällt es weit / Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit / Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis / Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiss.

Über hundert Jahre ist es alt, dieses Gedicht, und es könnte von heute sein.

Der Krieg begleitet die Menschheitsgeschichte wie ein Gespenst, und immer wieder wird unsere Hoffnung, es sei nun zu Ende mit ihm, zerschlagen. Zwei Weltkriege hatte das letzte Jahrhundert für uns bereit, dann kam der Ungarnaufstand, dann kam der russische Einmarsch in die Tschechoslowakei, dann kamen die Balkankriege, und nun hat ein grössenwahnsinniger ehemaliger Geheimdienstoffizier den Befehl gegeben, die Ukraine zu überfallen.

Und zu unserm Entsetzen über das, was dieser Angriff auf die Zivilbevölkerung anrichtet, gesellt sich die Angst, der Krieg könnte sich ausweiten, schon hören wir die Drohung, man könne auf Atomwaffen zurückgreifen, und die Nachricht, dass das havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl zum Kriegsobjekt geworden ist, weckt die Angst vor dem atomaren Fallout von 1986 wieder auf.

Und wir wissen, dass der Krieg nicht nur aus dem Abschiessen von Bomben und Granaten besteht, sondern dass er noch an ganz anderen Fronten stattfindet, dass Öl und Gaspipelines stillstehen, dass Getreidelieferungen ausbleiben, auf welche Länder von Syrien bis Kenia angewiesen sind, dass er dort die Preise in die Höhe treibt, sodass sie für die Armen unerschwinglich werden, dass er an Orten, die weit vom Geschützdonner entfernt sind, Hunger und Elend verursacht. Es gibt keine lokalen Konflikte mehr. Auch der Krieg hat die Lektion der Globalisierung gelernt.

Und zu den schwer erträglichen Bildern von schutzsuchenden Menschen, die Bombardierungen und Artilleriefeuer ausgesetzt sind, kommt der Gedanke an die Tragödie all der jungen Menschen, die als Soldaten in einen Krieg geschickt werden, den man gar nicht bei seinem Namen nennen darf, denn dass Krieg ist, erkennt man auch daran, dass Wörter verboten werden.

Ich lasse eine Dichterin sprechen und singen, die diesen jungen Menschen ein Lied gewidmet hat, die kanadische Indigene Buffy Sainte-Marie, «The Universal Soldier», ich habe das Lied in die Mundart übersetzt, «Der ewig Soldat»:

Är isch einedrissgi und isch noni zwänzgi gsi / är het helli Hutt und dunkli Hoor / är kämpft mit Rageete und er kämpft mit em Speer / und isch Soldat scho sit tuusig Johr.

Är isch katholisch und isch Hindu / är isch Moslem und isch Jud / als Bueb isch er Mässdiener gsi / Är weiss, är sett nid töde / und är weiss, är tödet glych / und zwar di für mi und mi für di.

Und är kämpft für Ängland / und är kämpft für d Türkei / und är kämpft für d USA / und är kämpft für Russland / und är kämpft für d Ukraine / dass der Chrieg es Änd sell ha. 

Und är kämpft für d Tyranne / und für d Demokratie / und seit, eso gebs Friede im Land. / Är isch dä, wo mues entscheide / wär darf läbe und wär stirbt / und är isch blind für d Schrift a der Wand.

Doch der Caesar wär elei gsi ohni ihn / und was hätt ächt der Hitler gmacht? / Numen är git si Körper als Waffe füre Kampf / ohni ihn fallt ke Bombe i der Nacht.

Är isch der ewig Soldat / worum folgt er au so guet? / Der Befähl für ihn chunnt nid vo niene här / är chunnt vo ihm, vo dir und mir / und mir alli dänke z weni / wie ne Wält ohni Chrieg würklech wär. 

Am Schluss des Liedes wird auch die bange Frage aufgeworfen, ob wir denn am Ende etwas zu tun haben könnten mit diesem Krieg – und haben wir nicht gehört, dass «Nord Stream 2» in Zug zu Hause ist, oder war, und dass ein grosser Teil des gesamten Rohstoffhandels über Firmen in der Schweiz laufe, deren Namen wir noch nie begegnet sind?

Und schon werden die Menschen von den Wellen des Krieges zu Tausenden in unser Land gespült, und wieder einmal sind wir aufgerufen zu Grosszügigkeit und Hilfsbereitschaft. Mindestens etwas, das wir tun können.

Ich war mehr als einmal in der Ukraine, meine Kindergeschichten wurden auf Ukrainisch übersetzt, ich habe ukrainische Freunde, sie sind bestürzt und fassungslos über das, was ihrem Land angetan wird. Einige meiner Bücher wurden ins Russische übersetzt, und ich habe auch russische Freunde, in Russland und der Schweiz, und sie alle sind bestürzt und fassungslos über das, was in der Ukraine geschieht. Wir dürfen die russischen Menschen nicht bestrafen für das, was ihr grössenwahnsinniger Präsident tut.

Der Krieg. Aufgestanden ist er, welcher lange schlief …

Aber jetzt, wo er erwacht ist, wird er von ganz Europa empfangen wie ein alter Bekannter, mit dem Ruf: «Aufrüsten, sofort!»

«Wie geht’s?» fragte die Trauer die Hoffnung. «Ich bin etwas traurig», sagte die Hoffnung. «Hoffentlich», sagte die Trauer.