Endo Anaconda (1955–2022): Zärtlich, frei, verträumt und wild

Nr. 6 –

Noch einmal und immer wieder «Chole»: zwölf Songs und Stücklein, die fast alles über Endo Anaconda und die Feinheit seiner dicken Stoffe erzählen. Es wird jetzt das beste Stiller-Has-Album aller Zeiten bleiben.

Ein Lyriker fürs Eingemachte und wie wir jetzt merken: fürs Haltbare. Endo Anaconda im Juni 1998. Foto: Francesca Pfeffer, Keystone

Wo leben wir hier eigentlich? Wo die Toten sich hinter die Sparbücher machen und Töfflibueben um den Thunersee brettern, wo beim Wandern immer die andern stören – und wo wirklich nichts mehr zu holen ist ausser gestört durchgebratenen Cervelats unter Idioten.

Man hat ihm angemessen nachgerufen in den Zeitungen, Gläser ausgetrunken und aufschreiben lassen, hat auch da und dort kurz geschwiegen. Ein Seufzen ging quer durchs Mittelland um Endo Anaconda, der einmal Andreas Flückiger hiess und vor neun Tagen gestorben ist. Er hat die Schweiz von unten her dichten können, in einem Dialekt, den man erfinden müsste, hätte er ihn nicht schon selbst erfunden – halb Österreicher, halb Schweizer, Emmentaler, Stadtberner, Lyriker fürs Eingemachte und wie wir jetzt merken: fürs Haltbare.

«Mir hei vil z lang Blindi Chue gspilt / Itz spile mer mitem Läbe / E Schneekanone spilt Golfchrieg / gägne warme Früehligsräge». So fährt «Chole» ein – das Titelstück schlägt auf zum womöglich besten Stiller-Has-Album aller Zeiten. Wir hören Anaconda als Meteorologen fürs Grosswetter, auf der Höhe seiner Stimmgewalt: Wie er die Temperamente spielt vom einen Wort ins nächste, jault, schreit, jammert und schliesslich, die Band ist heissgelaufen, der Musikgeschichte dieses seltsamen Landes das vielleicht einzige, mit Sicherheit aber beste Scatsolo anschmettert. Die Gitarren heulen mit, Fusspauke und Kontrabass traben im Gleichschritt.

Dumm vor Liebe

Das Mittelland: eine geizige, dystopische, karge Landschaft in der Identitätskrise, wenn das Geld fehlt. Auch der Klimawandel macht Föhnkopfschmerzen in diesem denkbar weltläufigen Stück, geerbt von einem feuchtwarm gelagerten Elektrogitarrenfolk-Einfall aus Amerika. Ist es statt Americana eine Art Helveticana, die hier erfunden wird? Dann hören wir Anaconda, den am Herz versehrten, wie er vergeblich und dumm vor Liebe am Telefonhörer hängt, während die Eifersucht Leerstellen in die Welt frisst und das Blech schwer atmet: Schon im zweiten Lied, «Fisch», kracht das aufgeschlagene Panorama zusammen ins schicksalhafte Einzelteil.

Denn mehr als über Länder und Weisheiten hat Anaconda über die Menschen, meist die Giele, gesonnen und gesungen, das heisst einzelne und verlorene. Und was machen die Menschen? Sie haben Liebeskummer. Auch der arme Tropf in «Wäge dir», auf den anfangs noch brüderliches Mitgefühl, dann aber die böse Überraschung wartet: «Är het gfluechet, är het glitte / Du bisch glych nid binem blibe – wäge mir!»

Die armen Tröpfe landen dann in der Beiz. Der Topos der Feierabend- und Herzschmerzbar hat allerdings auch schwer gelitten seit 1998, am Rauchverbot natürlich – und an einer gewissen Abgegriffenheit, gleich den verschnitzten Tischen und verkalkten Gläsern. Man ist es ein bisschen leid geworden, den gesellschaftlichen Wert der Beiz heraufzuschreiben wie die Altvorderen mit ihrem Ballon Rotwein im Kreuz/Löwen/Hirschen. Dafür findet sich auf «Chole» zum Glück ein «Tequila Halleluja» als vergnügliche Jesusfantasie mit fliegenden Fäusten und kotzenden Jüngern, und lieber noch der «Rouch»: «Me füehlt sech so deheim / Es chönnti fasch scho weh tue (…) U nüt isch glych / U glych isch nüt / Isch mir doch glych».

Eine Ausgängerin aus dem Frauengefängnis, der taktierende Architekt, gescheiterte Weltrevolutionäre und die abgehangene alte Liebe: Mit sparsamen Strichen zeichnet Anaconda hier das Bild der exakten Bar am exakten Ort und mit ihrem Personal. Und spielt das Cello zum Schluss das nötige Fragezeichen in den Raum, braucht es keine weiteren Ausführungen.

Die besungene Beiz in der Berner Rathausgasse ist am Abend der Nachricht über Anacondas Tod übrigens nicht voller, leerer oder anders als sonst, ein paar Stammtischler stossen auf Endo an. Nüt isch glych, u glych isch nüt.

Handgranate im Sack

Die gleichen Gesichter alle Tage – man hört sie in «Rouch» trotz der Beizenwärme aufkommen, die Sehnsucht nach nur ein bisschen mehr. Der Töfflibueb in «125 ccm» sucht dann nach der Kündigung in der Fabrik die Freiheit auf der Strasse, kommt aber nicht viel weiter als bis zum Thunersee, den Wind in den Haaren, die Bluestonleiter im Ohr, die Handgranate im Sack. Das Feld ist eng gesteckt, man kann es trotzdem ausloten.

Und dann der Hene, eigentlich unermüdlicher Abwart in der Holenacker-Siedlung. Dem ist es eines Tages einfach genug, er nimmt sich den Monatszins des Blocks «und gniesst jede Meter zwüsche sich und em Holenacher, jedi Sekunde, jede Tag». «Furt» erzählt vom Ausbruch, diesem liebsten Tagtraum im sogenannten Mundartrock, aber so leicht und ohne Schweissgeruch, dass das auch über den reaktionären Gegenentwurf auf der Route 66 oder im Blockhaus in Kanada hinausweist: «Dr Hene füehrt es bessers Läbe, zärtlech, frei, verträumt und wild.» Liebe für den Underdog, ohne ihn zu überhöhen – das hat Anaconda gut gekonnt, und sich mit den kleinen Helden gefreut. Wie ambivalent die Abkehr vom Altbekannten dann trotzdem ist, klingt im Refrain an: «We mr chönnte, mir giengte ja ou» – ja wer oder was einen hindert, vielleicht man selbst, wer wüsste das schon.

Und wie schwierig das sein kann. Anaconda hat seine Lebensgeschichte vor anderthalb Jahren dem «Magazin» erzählt: das katholische Internat in Klagenfurt, die Mutter, die, traumatisiert vom frühen Tod des Mannes, ihre zwei Söhne bei ihren Eltern in Kärnten aufzog. Hier singt Anaconda so fürchterlich zärtlich über sie, die autoritäre, hilflose «Mama»: wie sie befahl, wie sie ihn hässlich schimpfte, und der Kummer, den er ihr bereite ob all der Lämpen, wie er aber ihr Lieblingskind sei – «d Mama het gseit, d Mama het gseit», es ist bald ein Mantra. Und all die Gewalt, Ohnmacht, Trauer, die aus der Liebe herauskommen kann, schwingt in diesem Blues mit, ausserdem die Enge, die dergestalt eigentlich nur innerhalb einer Familie entstehen kann.

Anaconda verliess Österreich erst, als die Mutter gestorben war. 1981: Da war das kleine Bern auf einmal Hoffnung. Ausbrechen oder hierbleiben, das ist eine brennende Frage für jemanden, der von sich meinte, nie recht eine Heimat gehabt zu haben. So zog sich die Auseinandersetzung mit dieser durch sein Werk, und immer blieb sie skeptisch.

Mit Händen und Füssen

«Chole» ist ein Album mit schönen Kratzern. Die Band spielt live und roh auf, zuvorderst Balts Nill, dazu eine Handvoll Gastmusiker. Sie rumpeln in gescheiten Arrangements, die den Musikern das Loslassen erlauben – Endo kann darüber fliegen, stolpern, bruchlanden. Innerhalb des Werks von Stiller Has markiert «Chole» einen Umbruch, ein paar Schritte weg von der abschüssig-volkstümlichen Kleinkunst, hin zum Song, der im späteren Werk und mit eher funktionalen als neugierigen Bandbesetzungen musikalisch ab und zu etwas bieder daherkommen wird.

Schon damals ging es immer wieder um den Tod bei Anaconda, ganz selbstverständlich, aber nicht beiläufig. Sterbenwollen vor lauter Kummer: Das ist die Mama, das sind die traurigen, eifersüchtigen Männer in «Fisch» und «Wäge dir». Sterben aus Übermut, das ist vielleicht der Töfflibueb. Dem Tod entkommen, das ist Hene, der eben nur seinen Abwartschurz aufgehängt hat und nicht sich selbst. Und den Wanderern, denen wünscht Anaconda den Tod in der Lawine oder an der Langeweile. Für sich und die Beiz sagt er es in «Rouch» dafür stolz: «Nur die Chnüppelherte wärde überläbe.»

Der hier aus gegebenem Anlass unterverdankte Balts Nill hockt zum Schluss alleine an seinen Sachen, polloltert einen betrunkenen Rhythmus mit Händen und Füssen, drückt dazu lustig in die Tasten. «Hatz» heisst das Stücklein, für den sentimentalen Schlussakkord fehlt schon nur eine freie Hand. Der Rest der Band ist wahrscheinlich am Rauchen.

«Chole» von Stiller Has ist 1998 bei Sound Service erschienen.