Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Manchmal spielen sie traurige Lieder

In Lwiw geht das Leben seinen Gang: Oksana verkauft immer noch Backwerk, das auch weiterhin auf Rädern ausgeliefert wird.

Während in anderen Landesteilen ganze Städte in Schutt und Asche gebombt werden, ist Lwiw vom russischen Angriffskrieg weitgehend verschont geblieben. Der Alltag geht weiter – viele, die ihn mitprägen, kommen aus den verwüsteten Städten.

Die charmanten Strassenbahnen älteren Modells rasseln wie gewohnt durch die Altstadt. Lebensmittelboten mit den bunten Rucksäcken ihrer jeweiligen Lieferdienste warten vor trendigen Restaurants darauf, dass die Bestellungen, die sie per Scooter austragen sollen, fertig werden. In Lwiw geht das Leben seinen Gang, auch wenn sich der Krieg weiterhin lautstark bemerkbar macht: Noch immer heult der Fliegeralarm fast täglich auf. Auch wenn es in der Stadt nur zu vergleichsweise wenigen Raketentreffern gekommen ist, liegt die Gefahr in der Luft.

Für die Menschen in Lwiw ist dieser Zustand in den letzten Wochen zum Alltag geworden. Oksana ist eine Verkäuferin mittleren Alters, die wie viele andere durch den Krieg misstrauisch gestimmt ist und ihren Nachnamen lieber nicht nennen will. «Ich mache mir natürlich Sorgen, dass der Krieg auch uns erreichen kann. Wir machen unsere Arbeit aber weiter wie gewohnt», sagt sie.

«Zu Hause ist wohl nichts mehr übrig»

Oksana blickt aus dem kleinen Fenster einer Strassenbäckerei hinaus. Im Schaufenster liegen süsses Backwerk, armenisches Fladenbrot und georgische Käsetaschen. Hinter Oksana steht ein Kollege und bedient den Ofen. Drinnen ist es warm und riecht lecker, Oksana geniesst aber die frische Luft am Fenster, durch das sie den Verkauf abwickelt. Wo sie beim Fliegeralarm Schutz suche? «Dort drüben», antwortet sie und nickt in Richtung der Sankt-Anna-Kirche auf der anderen Strassenseite. Die Frage, ob denn die Kirche wirklich als sicherer Luftschutzraum betrachtet werden könne, beantwortet sie wortlos, mit einem Blick, der wohl sagen will: Wenn man sich dort nicht sicher fühlen kann, wo denn dann?

In einer Zweigstelle der hippen Cafékette Coffee Labs ein Stück ausserhalb der Innenstadt steht die 19-jährige Barista Jelena hinter dem Tresen. Sie ist eine der rund 200 000 Neuankömmlinge in der Stadt. Sie kam in den ersten Kriegswochen nach Lwiw und stammt eigentlich aus Charkiw, der Grossstadt im Osten des Landes, die schwersten russischen Artilleriebeschuss erlitten hat. Sie arbeitete bereits vor der Flucht neben dem Studium in einem Café. In Lwiw angekommen, fragte sie beim Bestellen eines Kaffees, ob womöglich eine Stelle frei sei, und wurde kurzerhand eingestellt.

Nun besteht eine ihrer Aufgaben darin, das Café bei Fliegeralarm zu räumen, abzuschliessen und die Kund:innen aufzufordern, ihr und ihren Kolleginnen in den Luftschutzraum zu folgen. Welche Gedanken sie sich über die eigene Zukunft machen soll, weiss sie nicht. «Mit dem Krieg sind im Grunde alle Pläne zunichte gemacht worden», sagt sie. «Ich werde wohl erst mal hier in Lwiw bleiben. Zu Hause in Charkiw wird man ja nicht mehr wohnen können, selbst wenn der Krieg endet. Dort ist wohl nichts mehr übrig.»

Auf einem Platz im Zentrum, vor dem Opernhaus, stehen Passant:innen in der Frühlingssonne und hören drei jungen Strassenmusikanten zu. Auf den ersten Blick eine Szene, wie sie sich in jeder europäischen Tourist:innenstadt abspielen könnte. Nur die Stimmung ist irgendwie ernsthafter. Die Band spielt eine instrumentale Version des Hits «Zombie» von den Cranberries. Nachdem die letzte Note verklungen ist, bedankt sich der Violinist Bogdan für den Applaus und bittet die Zuhörer:innen, Geld in die vor ihm liegende Instrumententasche zu legen. Auf der Tasche klebt ein Zettel mit der Aufschrift: «30 Prozent der Einkünfte gehen an die Streitkräfte der Ukraine.» Abschliessend ruft er: «Ehre der Ukraine!», worauf das Publikum, dem nunmehr landesweiten Kampfslogen entsprechend, «Und den Helden Ehre!» antwortet.

«Wir können jetzt nicht aufhören»

Die Band heisst String Mockingbird und besteht aus dem heiteren Bogdan, dem Cellisten Pavlo und dem Schlagzeuger Nikita. Die Musik ist für das Trio nicht nur Hobby, sondern auch Einkommensquelle. Zu Friedenszeiten spielen sie sowohl in den Strassen der Stadt als auch in verschiedenen Clubs. Nikita arbeitet dazu in einer Musikschule und bringt Kindern das Schlagzeugspielen bei. Vor vier Jahren ist er zum Studieren nach Lwiw gezogen – ursprünglich kommt er aus Mariupol. Die südukrainische Hafenstadt liegt inzwischen fast völlig in Schutt und Asche, die humanitäre Situation ist katastrophal. «Die Stadt wird dem Erdboden gleichgemacht. Ob mein Haus noch steht, weiss ich nicht», sagt Nikita.

Für Bogdan ist es eine Selbstverständlichkeit, trotz – oder gerade wegen – der Umstände weiter Strassenmusik zu machen. «Wir spielen, um die ukrainische Moral zu heben. Wir können jetzt nicht aufhören. Alle müssen auf ihre Weise etwas beitragen», erklärt er selbstbewusst. Selbst bei Fliegeralarm würden sie weiterspielen, meint er. «Wir spielen dann einfach traurigere Lieder», ergänzt Cellist Pavlo.