Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Die Ausgewanderten

«In Istanbul verstehen alle meine Situation sofort»: Der Filmemacher Dmitri Wenkow ist aus Moskau in die Türkei gezogen.

Auch zahlreiche Russ:innen verlassen wegen des Krieges ihr Land. Drei Begegnungen in Istanbul, Almaty und Bischkek.

Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine sind Millionen ukrainische Zivilist:innen auf der Flucht. Gleichzeitig erlebt auch Russland einen historischen Exodus. Hunderttausende, besonders junge Menschen aus der gebildeten Mittelklasse haben das Land verlassen. Zu ihren Beweggründen zählen sowohl politische Ängste als auch Sorgen über die eigene Versorgung. Viele von ihnen versuchen nun, sich in Russlands Nachbarländern, etwa in der Türkei und in Zentralasien, ein neues Leben aufzubauen.  

«Ich bekam einfach Angst», erklärt Dmitri Wenkow, ein Filmemacher aus Moskau, seine Flucht nach Istanbul. Er sitzt im schattigen Innenhof eines Cafés im europäischen Stadtteil Nisantasi und dreht eine Zigarette nach der anderen. «Es hat sich eine spürbare Verschiebung zu einem neuen Regime vollzogen. Als Putin am Vorabend des Krieges seine historische Vorlesung abhielt, empfand ich das als etwas Neues und sehr Beängstigendes. Beruflich war es für mich ohnehin immer schwieriger geworden, und nun kam dieser psychologische Aspekt dazu», sagt er.

Schon vorher sah sich Wenkow mit zunehmender Selbstzensur in der russischen Kunst- und Filmwelt konfrontiert. Obwohl seine Filme eher experimentell sind und keine explizite Botschaft enthalten, bekam er von potenziellen Geldgeber:innen zukünftiger Projekte in letzter Zeit immer häufiger skeptische Fragen dazu, ob seine Arbeit «politisch» sei. Die Finanzierung blieb aus.

Nie mehr zurück

Verglichen mit Russland erscheint ihm Istanbuls lebhafte Kulturlandschaft wie ein Ort der Freiheit. Die Wohnung, in der er und seine Frau, eine Künstlerin, wohnen, fanden sie über Kontakte in der türkischen Kunstszene. Gleichzeitig ist sich Wenkow der Ironie bewusst, in ein Land geflohen zu sein, das viele einheimische Oppositionelle verlassen. «Wenn ich mit Leuten hier rede, muss ich unsere Situation kaum gross erklären, die verstehen das alles sofort, weil sie selbst Ähnliches erlebt haben», sagt er.

Was die Zukunft angeht, ist Wenkow gespalten. «Einerseits ist mir klar, dass das alles nicht vorübergehend ist. Aber gleichzeitig hoffe ich, dass ich wieder zurückkehren kann.»

Pawel und Maria sind kürzlich von Moskau nach Kasachstan umgezogen. Für das Paar ist die Lage weniger zwiespältig. «Wir sind weggegangen, um nie mehr zurückzukehren», erklärt Pawel während eines Spaziergangs nahe ihrer neuen Wohnung in Almaty. Da die beiden sich auch hier vor dem russischen Repressionsapparat nicht völlig sicher fühlen, möchten sie lieber anonym bleiben. Es ist sonnig, und in der Ferne glitzern die schneebedeckten Berge. Den Flug hierher buchten sie am ersten Kriegsmorgen. Nach einer stressigen Woche, in der sie ihr altes Leben abwickelten, waren sie in Kasachstan.

Der Bildhauerin Maria fehlt nun nicht nur der Zugang zu einem Atelier, sondern auch der Lehm, mit dem sie normalerweise arbeitet. Der kam vor dem Krieg nämlich aus der Ostukraine. Die Firma, bei der Pawel als Unternehmensentwickler beschäftigt ist, baut in Almaty gerade eine Zweigstelle auf, weshalb er den Umzug beruflich gut bewältigen kann.

Eine Frage der Moral

Maria kennt Kasachstan schon aus der Kindheit. Ihre Mutter kommt von hier, und als Kind hat sie regelmässig Zeit bei Verwandten im Land verbracht. Der multiethnische Hintergrund des Paares war auch ausschlaggebend für ihren Entschluss, Russland zu verlassen. Neben ihrem kasachischen hat Maria auch einen armenischen Hintergrund, Pawel kommt aus einer teils jüdischen, teils armenischen Familie. «Die nationalistische Stimmung, die zurzeit in Russland floriert, erlebten wir als bedrohlich», erklärt er.

Für Maria geht es auch um Moral. «Mit jedem Einkauf Steuern an einen Staat zu zahlen, dessen Militär ein Nachbarland bombardiert, bedeutet, Terrorismus zu finanzieren», erklärt sie. Etwas verlegen wendet Pawel ein, dass die Verträge zwischen russischen Firmen, an deren Abschluss er täglich bei der Arbeit mitwirkt, schwerer wögen als ihre Lebensmitteleinkäufe.

Langfristig hoffe er, nur noch in internationalen Projekten tätig zu sein und somit Russland hinter sich lassen zu können. Maria möchte die armenische Staatsbürgerschaft erlangen. «Sobald ich die habe, werde ich meinen russischen Pass verbrennen», sagt sie.

Das Währungsproblem

Auch wenn er den Krieg ebenfalls ablehnt: Für den IT-Spezialisten Wladimir, der seinen Nachnamen auch lieber nicht nennen will, war der Umzug nach Bischkek, in die Hauptstadt Kirgisistans, vor allem eine praktische Angelegenheit. Er arbeitet nämlich für ein internationales Unternehmen und bekommt sein Gehalt in Dollar ausbezahlt, was in Russland zurzeit nicht möglich ist.

«Mir wurde in der ersten Kriegswoche, als die Sanktionen und Einschränkungen beim Währungsumtausch in Kraft traten, klar, dass ich ausreisen muss», erklärt er in einer Kneipe im Zentrum Bischkeks. Seine Frau und die beiden Kinder sind vorerst in Nowosibirsk zurückgeblieben.

Auch wenn Wladimir sowieso im Homeoffice arbeitet und seinen Job wie bisher ausführen kann, hat sich sein digitaler Arbeitsalltag durch den Krieg verändert. Mehrere Hundert seiner russischen und belarusischen Kollegen, die nicht umziehen wollten oder konnten, sind inzwischen nicht mehr bei der Firma. Unter den übrigen Kollegen sind auch zahlreiche Ukrainer:innen, was Wladimir in vielen Fällen erst nach Kriegsausbruch klar wurde.

Persönliche Vorwürfe

«Ein Teil von ihnen wirft den russischen Kollegen vor, Schuld daran zu tragen, dass all das passieren konnte», sagt er und senkt den Blick. «Ich weiss ehrlich gesagt nicht richtig, wie wir weiter zusammenarbeiten sollen. Es ist schwer, wenn einem persönlich Vorwürfe dafür gemacht werden, nichts getan zu haben, um all das zu verhindern.» Nach einer Pause fügt er hinzu: «Sicherlich ist es nicht so, als hätte ich mich besonders bemüht.»

Um die Produktivität zu gewährleisten, hat die Firmenleitung mittlerweile politische Diskussionen zwischen Angestellten verboten. Ob diese Zensur die Spannungen abbauen könne, werde sich zeigen müssen, sagt Wladimir. Ob seine Familie ihm nach Bischkek folge, sei ebenfalls noch unklar. Seine Frau sei skeptisch.

«Klar ist das schwer, ich vermisse besonders die Kinder, aber es wäre schlimmer, wenn ich geblieben wäre, aber keine Arbeit mehr hätte», sagt er. «Ich mochte mein altes Leben mit der Familie und unserem Hund. Wenn ich daran denke, ist mir traurig zumute. Wenn ich mir jedoch vorstelle, was meine ukrainischen Kolleg:innen durchmachen, scheinen meine Sorgen vergleichsweise gering.»