Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

In (Un-)Sicherheit

«In einem bestimmten Moment fangen sie an zu zeichnen»: Die Arttherapie hilft Kindern beim Verarbeiten des Krieges.

Hunderttausende Kinder sind aus der Ukraine nach Polen geflüchtet. Ihr psychisches Wohlbefinden hängt stark mit der Art und Weise der Aufnahme zusammen.

Irina Owchar ist voller Energie, doch sie wirkt auch angespannt. Die zweifache Mutter ist im März mit ihren beiden minderjährigen Kindern aus der Nähe von Kyjiw ins südpolnische Gliwice geflüchtet. Zuvor hatte sie mehrere Jahre als Kinder- und Familienpsychologin auf einer Privatschule in der ukrainischen Hauptstadt gearbeitet – und sie macht dies weiterhin: Im Onlinefernunterricht bespricht sie mit ihren Schüler:innen Themen wie Selbsterkenntnis, Freundschaft und psychische Probleme. Und sie unterstützt Jugendliche in Einzelgesprächen, berät auch deren Eltern. 

Neben ihrer Lehrtätigkeit arbeitet Owchar als Freiwillige mit ukrainischen Kindern, Jugendlichen und deren Eltern, die nach Gliwice geflohen sind. Die polnische Therapeutin Alicja Baranek hat dafür ihre Praxisräume im Zentrum der 180 000-Einwohner:innen-Stadt zur Verfügung gestellt. Einige Dutzend Personen nehmen dort seit März an nach Alter gegliederten Gruppentreffen teil, in denen sie sich mit ihren kriegsbedingten Belastungen auseinandersetzen.

Zudem führt Owchar Einzelgespräche, bei denen Techniken der sogenannten Arttherapie zur Anwendung kommen: Malen, Zeichnen oder Gestalten mit Salzteig. «Manche Kinder wollen nichts über ihre Erlebnisse erzählen. Doch in einem bestimmten Moment fangen sie an zu zeichnen», sagt sie. «Jedes Kind hat eine eigene Psyche, einen Punkt, an dem es bereit ist zu beginnen. Ich lege also Stifte auf den Tisch und sage: ‹Ihr könnt sie benutzen, wie und wann ihr wollt.› Manche nutzen das Angebot gar nicht, andere aber schon. Sie kommen dann auf mich zu, um zu erzählen, was sie gemalt haben.»

Alicja Baranek wiederum betont, wie wichtig es für die Kinder sei, wenn ihre Unterstützer:innen Ukrainisch (oder Russisch) sprechen könnten – und wie hilfreich es sei, wenn sie selbst aus der Ukraine kämen und so besser verstünden, was dort zurzeit geschehe. So hat auch Irina Owchar bereits vor dem Kriegsausbruch am 24. Februar Erfahrungen mit Kindern gemacht, die bewaffnete Konflikte erlebt hatten: seit 2014 in den ostukrainischen «Separatistengebieten». «Jugendliche, die in den letzten Jahren aus dem Osten nach Kyjiw kamen, hatten grosse Traumata erlebt. Es machte mir schon damals Angst, zu sehen, was mit ihnen geschah, wie es sie erschütterte. Nun betrifft das Problem deutlich mehr Kinder», sagt sie. 

Angst vor dem Neuen

Ein kleines Glück für die ukrainischen Kinder ist zumindest, dass sie als Geflüchtete in Polen, aber auch in anderen Staaten Europas Zuflucht finden und dabei sowohl von den Behörden als auch von den Menschen überwiegend mit offenen Armen aufgenommen werden. So besuchen in Polen bereits mehr als 200 000 Kinder und Jugendliche öffentliche Krippen, Kitas und Schulen. Etliche Bildungsanstalten stellen ukrainische Assistenzkräfte, zumeist geflüchtete Frauen, ein.

Vereine und Privatpersonen im ganzen Land organisieren zudem Bildungs- und Freizeitangebote - denn rund eine halbe Million Kinder besuchen keine Bildungseinrichtung, weil sie etwa in ihren ukrainischen Schulen am Fernunterricht teilnehmen. Nicht zuletzt für sie gibt es in ganz Polen auch psychologische Hilfe, die wegen des überforderten staatlichen Gesundheitssystems aber meist ehrenamtlich organisiert wird – wie von Irina Owchar und Alicja Baranek in Gliwice.    

Für Psycholog:innen ist indes offensichtlich, dass jedes Kind Krieg anders erlebt – auch weil die jeweiligen Erfahrungen sehr unterschiedlich sind: Manche haben Bombenangriffe und Tod ganz nah erfahren, während andere den Verlust ihrer Heimat und die Flucht ohne unmittelbare Lebensgefahr erlebten. Auch reagieren die Kinder unterschiedlich auf die ihnen angebotene Hilfe: Manche wollen zuerst niemanden treffen und sprechen, wollen allein sein, keine Aktivitäten unternehmen.

Sie hätten Angst, etwas Neues zu beginnen, berichtet Owchar, weil sie ihre vertraute Umgebung, ihre Freunde verloren hätten. Viele hätten allerdings schnell Vertrauen gefasst – und fühlten sich dann sicher. «Ich hatte einen Sechsjährigen in der Gruppe, der mit seiner Mutter nach Gliwice kam. Vor ein paar Wochen musste sie in die Ukraine zurück, weil sie sonst ihren Job verloren hätte. Ihr Sohn wollte aber nicht mehr zurück.»

Risiko einer Retraumatisierung 

Inzwischen kehren täglich Tausende in die Ukraine zurück, vor allem in die von den Kriegshandlungen weitgehend verschonten Gebiete. Dass viele Kinder in jenen Ländern bleiben wollen, in denen sie Zuflucht fanden, hängt auch damit zusammen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sie akzeptiert. Anders ergeht es indes Geflüchteten, die in den Aufnahmeländern Ablehnung und Misstrauen erleben. Die Erfahrung des Willkommenseins oder der Feindseligkeit aber hat einen enormen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden, zumal bei Kindern. 

An der polnisch-belarussischen Grenze etwa erleben Geflüchtete keine offenen Arme, sondern brutale Pushbacks. Dorota Przygucka koordiniert das psychologische Team der polnischen Stiftung Ocalenie (deutsch: Rettung), die seit Jahrzehnten Geflüchteten hilft. Seit dem letzten Sommer engagieren sich die Mitarbeiter:innen der Stiftung und Freiwillige auch an der Grenze zu Belarus. 

«Die Menschen, die es nach Polen schaffen, betrachten unsere staatlichen Flüchtlingslager als Gefängnisse», erzählt Przygucka am Telefon. «Wenn ein Kind mit seiner Familie in eine solche Einrichtung kommt, sind die Möglichkeiten der rechtlichen Hilfe, aber auch der ärztlichen oder psychologischen Betreuung sehr begrenzt. Nach Erlebnissen wie jenen an der Grenze zu Belarus besteht ein hohes Risiko für posttraumatische Belastungsstörungen.»

Kinder seien dafür noch anfälliger als Erwachsene – besonders wenn sie nicht wüssten, wie lange sie in den Lagern bleiben würden. Hinzu komme, dass sie fast ausschliesslich von Kindern mit ähnlichen Erfahrungen umgeben seien. «Der damit verbundene Mangel an Normalität kann zu einer Retraumatisierung führen», so die Psychologin. 

Im Gegensatz zu diesen Kindern aus dem Irak, Afghanistan oder Ghana, deren Flucht oft nicht in Sicherheit endet, verringert die Ankunft der ukrainischen Geflüchteten in Polen ihr psychisches Leiden. «Es ist bedeutend, wenn aus der Perspektive der Kinder eine gefährliche Situation endet», sagt Psychotherapeutin Baranek. «Die Gefahr kann mit der Flucht aus der bombardierten Zone aufhören oder mit dem Verlassen des Landes. Das Trauma kann jedoch weitergehen, wenn sich die Kinder weiterhin unsicher fühlen.» Deshalb hätten die Behörden und die Organisationen eine grosse Verantwortung, ein sicheres Umfeld zu schaffen.

Informationen zu und eine Spendemöglichkeit für die Arbeit der Stiftung Ocalenie gibt es hier.