Geflüchtete in Polen: Im Dazwischen verloren
Mehr als 300 000 ukrainische Kinder und Jugendliche leben in Polen. Aber nur etwa die Hälfte der Schulpflichtigen besucht dort auch eine Schule. Expert:innen warnen vor den Folgen.
Sofia Tkaczenko hat in Polen ein neues Leben begonnen. Die sechzehnjährige Schülerin stammt aus der Grossstadt Dnipro, kam vor siebzehn Monaten kurz nach Kriegsausbruch mit ihrer erwachsenen Schwester nach Polen und lebt seither in der 660 000 Einwohner:innen zählenden Stadt Łódź. Seit gut einem Jahr besucht sie dort ein Gymnasium, und obwohl sie vor ihrer Ankunft die Sprache nicht gekannt hatte, spricht sie heute fast fliessend Polnisch. «Am Anfang besuchte ich zwar einen Extrasprachkurs, den die Schule organisierte, und das war auch gut», sagt Sofia. «Doch es hilft mir weitaus mehr, dass ich die Sprache täglich spreche.» Sie ist die einzige Ukrainerin in ihrer Klasse.
Sofias Schule wird auch von belarusischen und russischen Jugendlichen besucht. Ukrainische Schüler:innen gibt es mittlerweile nur noch vier. Viele hätten sich abgemeldet oder seien einfach nicht mehr erschienen, erzählt die Direktorin Katarzyna Felde. «Ich habe versucht, sie zum Schulbesuch zu bewegen, doch letztlich sind mir die Hände gebunden», so Felde. «Weder ich noch staatliche Behörden wissen, was diese Jugendlichen tun.»
Elefanten für Kinder
In Polen leben mehr als 300 000 Ukrainer:innen, die eigentlich schulpflichtig wären. Polens rechtskonservative PiS-Regierung erliess im vergangenen Jahr aber ein Gesetz, das es ihnen erlaubt, nicht in Polen, sondern online an ihrer Schule in der Ukraine zu lernen. Gemäss Angaben des Norwegian Refugee Council besuchen derzeit nur noch knapp die Hälfte von ihnen eine polnische Schule. Je höher die Klassenstufe, desto geringer der Anteil. Bei den Fünfzehn- bis Achtzehnjährigen – schulpflichtig sind Kinder und Jugendliche in Polen bis achtzehn – ist es nur knapp jede:r Vierte, und jeden Monat werden es weniger.
Róża Szadziuk ist deswegen besorgt: Sie ist Leiterin eines Flüchtlingsheims in einem Aussenbezirk von Łódź, das derzeit rund 130 ukrainischen Frauen und Kindern eine Unterkunft, Verpflegung und etliche Integrationsangebote bietet. Das Heim wird von der Stiftung Leny Grochowskiej betrieben, die polenweit fünf ähnliche Einrichtungen mit insgesamt 1300 Plätzen unterhält. Bei Kindern, die die Schule besuchen, beobachte sie viel mehr Gelassenheit, sagt Szadziuk. «Diejenigen, die nur online lernen, fühlen sich dagegen unsicherer in der Stadt und tun sich schwer damit, alltägliche Herausforderungen zu bewältigen.» Hinzu komme, dass sie viel mehr Mühe damit hätten, die Sprache zu lernen.
Es sind auch diese Kinder, die sich weitaus häufiger etwa in den Räumen der Łódźer Stiftung «Słonie na balkonie» (Elefanten auf dem Balkon) einfinden. Die Stiftung bietet psychotherapeutische Betreuung für Kinder und Jugendliche an. In einem der Räume halten polnische Jugendliche gerade eine Gruppensitzung ab. Man kann sie durch die Tür hindurch hören; die Kinder wirken fröhlich.
Nicht genug Angebote
Um auch ukrainischen Kindern helfen zu können, hat Słonie-Initiatorin Joanna Paduszyńska vor einem Jahr gezielt drei ukrainische Psychologinnen eingestellt. Eine von ihnen ist Julia Bruchowets, die schon vor dem Krieg in Polen lebte. In mehreren Kinder- und Jugendgruppen führe sie mit ukrainischen Geflüchteten Gespräche über ihre Ängste, ihre Kriegserfahrungen – und über die Sehnsucht nach dem Zuhause, erzählt Bruchowets. «Mehrere von ihnen besuchen weder die Schule in Polen, noch nehmen sie an regulärem Fernunterricht teil», sagt sie. Stattdessen erhielten sie bloss einmal im Monat Aufgaben aus der Ukraine und müssten dann alles allein machen, so die Psychologin. «Hinzu kommen Kinder, deren Beziehung zu ihren Eltern immer schwieriger wird, weil diese keine Arbeit haben und frustriert sind – oder weil der Vater nicht da ist, sondern an der Front.» Grundsätzlich würden sich die Jüngeren aber besser zurechtfinden als die Älteren.
Angebote wie das der Słonie-Stiftung gibt es in Polen nicht flächendeckend. Die Regierung, sagt Joanna Paduszyńska, steuere nicht nur keine Mittel zu solchen Hilfeleistungen bei, in Polen fehle es generell an «systemischen Lösungen». «Der Staat kümmert sich letztlich nur wenig um diese Geflüchteten.» Wegen seines nachlässigen Umgangs mit schulpflichtigen Kindern schlagen nun immer mehr Bildungsexpert:innen Alarm. 150 000 teils schwer traumatisierte Kinder und Jugendliche, die Tag für Tag nur vor Bildschirmen sitzen – die langfristigen Folgen davon sind derzeit noch schwer abzuschätzen.
Die sechzehnjährige Sofia Tkaczenko gibt sich derweil vergleichsweise zuversichtlich. Ihre Resilienz ist beeindruckend. Die Eltern der Schülerin mussten und müssen in der Ukraine bleiben – die Mutter ist Ärztin und der Vater Soldat. Sie unterstützen ihre beiden Töchter finanziell, Sofias ältere Schwester arbeitet neben ihrem Studium ausserdem in einer Fabrik. Zusätzlich erhält die Familie als Sozialleistung das polnische Kindergeld. Sie lebten daher nicht in Armut, sagt sie. Und sie benötige auch keine psychologische Unterstützung: «Nach über einem Jahr hier erschüttern mich Schreckensnachrichten aus der Ukraine etwas weniger», so Sofia. «Mein Leben konzentriert sich auf das, was hier ist, in Polen.»