Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Faktoren einer Katastrophe

Dogma, Ressentiment und Gerücht: Was Nikolai Gogol in der russischen Gesellschaft schon vor fast 180 Jahren beobachtete, scheint heute wirkmächtiger denn je. Und zwar gezielt kultiviert.

«Noch nie gab es in Russland eine solch unvorstellbare Vielfalt und Ungleichheit von Meinungen und Überzeugungen aller Menschen, noch nie […] solch eine Zwietracht in allen Belangen. Durch all dies weht ein Geist des Gerüchts, der leeren oberflächlichen Folgerungen, des dämlichsten Klatsches, einseitiger und nichtiger Schlüsse.»

Dies ist ein Zitat des ukrainisch-russischen Schriftstellers und Dramatikers Nikolai Gogol aus dem Jahr 1845 – und es scheint heute aktuell wie nie. Und sind nicht gerade Eris, die Zwietracht, und Ossa, die Göttin des Gerüchts, bei Homer die kriegstreibenden Kräfte? Heute wäre Ossa wohl auch die Schutzgöttin der Propaganda.

Dieses Allesverstehen

An dieses Gogol-Zitat muss ich jedenfalls denken, als ich mit einem der wichtigsten russischen Experten für Sozialpsychologie und Kriminologie über die russische Gesellschaft spreche. «Es gibt n Russlands», sagt der Experte, «also nicht das eine Russland, sondern viele. Moskau unterscheidet sich von anderen Städten. Kleine Städte unterscheiden sich von grossen. Die Reichen vom Mittelstand, der Mittelstand von den unteren Schichten. Es handelt sich nicht nur um andere Lebensformen, sondern es bestehen auch mentale Unterschiede. Diese Unterschiede sind äusserst gravierend und deshalb sehr wichtig, weil Politiker und Politologen, sowohl die westlichen als auch die russischen, hierin oft fehlgehen. Schon die Hauptstädter verstehen die Provinz nicht. Die Provinz lebt ihr eigenes Leben, und auch dort bestehen wiederum vielfache Schichtungen. Viele Studien zeigen, dass die gegenseitige Ablehnung, ja der Hass zwischen diesen Schichten zunimmt. Oft wird dabei ein potenziell gemeinsames Weltbild durch oberflächliche Losungen ersetzt. Diese kommen nicht zwingend von oben, sondern oft auch von unten. Jeder denkt, dass er alles verstehe. Es gibt endlose Spekulationen.»

Dieses Allesverstehen, der Mangel kritischer Hinterfragung der eigenen Positionen schienen mir schon immer ein Charakteristikum weiter Teile der russischen Bevölkerung zu sein. Damit will ich keinesfalls behaupten, es gebe so etwas wie eine grundlegende mentalitätsbasierte Veranlagung dieser Art. Vielmehr handelt es sich hier meines Erachtens um das Produkt zahlreicher regressiver Faktoren, die in Russland traditionellerweise – und seit mindestens zwei Jahrzehnten wieder verstärkt – kultiviert werden, weil sie den Machthabern in die Hände spielen.

Mächtige Kirche

Zu diesen Faktoren zählen in erster Linie diverse gefährliche Merkmale postsowjetischer Pädagogik und Bildung: Häusliche wie schulische Erziehung in Russland sind nach wie vor autoritär, rigide und neurotisierend. Über Generationen hinweg wird Aber- und Wunderglaube tradiert; die orthodoxe Kirche zwängt schon die formbare Kinderpsyche mittels Einflössung von Angst und Schuld in ein ideologisches Korsett, das keine Luft zum Zweifeln lässt. Auf diese Weise lernen die Bürger:innen schon früh, der Autorität bedingungslos zu gehorchen und blind an realitätsferne Dogmen zu glauben, was sie zu willfährigen Opfern staatlicher Propaganda formt. Nicht umsonst hat die Kirche in Putins Regierungszeit immer grössere Macht erlangt.

Das über Erziehung, Religion und Propaganda vermittelte kollektive Bewusstsein der eigenen nationalen Überlegenheit kollidiert immer wieder mit der individuellen Einsicht in Missstände der eigenen Lebensrealität – wie auch mit der Wahrnehmung, dass man vom «Westen» abgehängt worden sei. Aus dieser Kollision resultiert oft ein komplexartiger Trotz, ein unerschütterlicher patriotisch-imperialer Ersatzstolz bei gleichzeitiger Anerkennung der individuellen Nichtigkeit: Sich selbst begreift man als klein, Vater Staat mit dem Zaren hingegen als übergross. Das Ressentiment richtet sich dann schnell gegen alles, was «unrussisch» oder erst recht «antirussisch» ist – all dasjenige also, was der eigenen dogmatischen Auffassung von Russland widerspricht.

Dümmlich plump und effektiv

Ein Faktor hat diese Ressentiments wesentlich intensiviert. Wie Untersuchungen des oben zitierten Psychologen zeigen, verlieh die Covid-Pandemie der steigenden Feindseligkeit zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungssegmenten einen regelrechten Schub. Heute sehen wir, dass solche primitivistischen Russlandbilder, wie das Misstrauen und die Feindseligkeit im Dienste des Krieges, nicht bloss instrumentalisiert, sondern bewusst geschürt werden, während jeglicher Widerstand im Keim erstickt wird. Gab es zu Beginn der Kriegshandlungen immerhin noch eine leise Hoffnung, dass sich zumindest stiller Widerstand durch verschiedene Schichten hindurch konsolidieren könne, kann man nunmehr beobachten, wie die Führung solche Prozesse durch Zensur, Einschüchterung und die Belohnung von Denunziantentum sabotiert.

Vor allem aber provoziert jetzt die Propaganda all die oben beschriebenen nationalistischen Komplexe und archaischen Reflexe auf mitunter überraschend effektive Art: Man findet sich in einem Horrorszenario wieder, in dem Schläferzombies per Fernsteuerung aktiviert werden, nachdem ihre Hirne über viele Jahre hinweg allmählich präpariert wurden. Die dümmliche Plumpheit dieser Propaganda, die früher an ihrer Wirksamkeit zweifeln lassen konnte, entspricht dabei dem gogolschen «Geist des Gerüchts», den «leeren oberflächlichen Folgerungen», den «einseitigen und nichtigen Schlüssen» und kann auf diese Weise organisch wirken. Glücklicherweise gibt es auch heute noch nicht wenige Russ:innen, die Gogol lesen und verstehen.

* Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren, lebt als freier Autor in Aarau. Letztes Jahr erschien von ihm das «Handwörterbuch der russischen Seele». Im WOZ-Blog zum Krieg gegen die Ukraine wurden bereits mehrere Texte von ihm publiziert, zuletzt eine Analyse des russischen Nazismus-Begriffs. Mehr Infos auf: www.estis.ch