Bosnien: Jedem seine Schule

Der internationale Verwalter Bosniens, Paddy Ashdown, hat keine Geduld mehr. Mit Härte will er das Wohlverhalten der PolitikerInnen erzwingen.

In den letzten Junitagen schien es so weit zu sein. Carla Del Ponte, die Chefanklägerin des Uno-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, sagte vor dem Uno-Sicherheitsrat, sie erwarte die Verhaftung des angeklagten Kriegsverbrechers Radovan Karadzic noch «vor dem 1. Juli». Die Nato-Truppen in Bosnien, die Sfor (Stabilization Force), verstärkten die Kontrollen an den Grenzen zwischen Bosnien und Serbien, insbesondere entlang dem Fluss Drina. Sie durchkämmten während mehrerer Tage die ehemalige Militärbasis Han Pijesak, wo der Flüchtige vermutet wurde. Vergebens. Die Bemühungen der Sfor, den früheren Präsident der Serbischen Republik zu verhaften, schlugen ein weiteres Mal fehl. Karadzic hält sich wahrscheinlich in den Bergen in Ostbosnien versteckt. Dort verfügt er über ein solides Netzwerk von InformantInnen, hat die Unterstützung der lokalen serbischen Bevölkerung und kann auf KomplizInnen im Staatsapparat zählen.

Welle von Absetzungen

Am 30. Juni griff der internationale Verwalter von Bosnien-Herzegowina, Paddy Ashdown, hart durch. Seit Ende des Krieges hätten die serbischen Behörden Bosniens keinen einzigen der angeklagten Kriegsverbrecher festgenommen, sagte er vor den Medien und enthob 59 PolitikerInnen und hohe BeamtInnen der Serbischen Republik ihres Amtes. Betroffen sind der Parlamentspräsident der Serbischen Republik, Dragan Kalinic, und Innenminister Zoran Djeric sowie weitere hochrangige Politiker aus dem Umfeld der Serbischen Demokratischen Partei (SDS). Die SDS war 1990 von Karadzic gegründet worden. Seit den Wahlen von 2002 ist die nationalistische Partei in der serbischen Teilrepublik Bosniens wieder an der Macht.

Ashdown, der gerne als autoritär kritisiert wird, hat damit von den weitgehenden Vollmachten Gebrauch gemacht, die ihm das Friedensabkommen von Dayton zugesteht, das 1995 dem Bosnien-Krieg ein Ende setzte. Der Hohe Repräsentant hat den Auftrag, über die Anwendung des Friedensabkommens zu wachen. Auch die Vorgänger von Ashdown hatten von diesen Vollmachten Gebrauch gemacht; doch zu einer solchen Absetzungswelle ist es bisher nie gekommen. Seine autoritären Methoden haben dem Briten Ashdown den Übernamen «Raj» eingetragen, in Anspielung auf die britische Kolonialregierung Indiens. In den zwei Jahren seiner Tätigkeit haben sich seine Beziehungen zur kroatischen und serbischen politischen Führung verschlechtert, und auch mit den bosnischen PolitikerInnen steht er nicht allzu gut.

Kurz vor den Absetzungen, am Nato-Gipfel vom 28. und 29. Mai, hatte die Nato entschieden, Bosnien nicht in das Programm Partnerschaft für den Frieden aufzunehmen. Als Grund wurde die mangelhafte Bereitschaft Bosniens zur Kooperation mit dem Kriegsverbrechertribunal genannt. Gleichzeitig bekräftigte die Allianz den Entscheid, ihre Bosnien-Mission Ende 2004 auslaufen zu lassen. Die Sicherheitsaufgaben werden einer neuen militärischen Mission der EU übergeben. Die EU wird ab 1. Januar nächsten Jahres 7000 Mann in Bosnien stationieren. Die Nato hält allerdings ein kleines Kontingent aufrecht, das weiterhin angeklagte Kriegsverbrecher jagen und gegen den «Terrorismus kämpfen» soll. Die USA verdächtigen radikale Islamisten, Bosnien als Drehscheibe zu benützen. Nach wie vor sitzen mehrere bosnische Staatsangehörige auf dem US-Militärstützpunkt Guantánamo in Kuba.

Streit um Dayton

Mit Skepsis hat auch die politische Führung der bosnischen Muslime auf die Absetzungen in der Serbischen Republik reagiert. Für die Demokratische Aktion (SDA), die in Sarajevo an der Macht ist, liegt das eigentliche Problem in den politischen Institutionen Bosniens. Es brauche eine Veränderung der Verfassung, denn sonst «werden die Funktionäre einfach durch andere ersetzt, die wieder dasselbe tun», sagte eine SDA-Sprecherin. Dieser Ansicht schliesst sich die Opposition in Sarajevo an. Sie verlangt die Aufhebung des komplizierten institutionellen Mechanismus, der durch den Dayton-Vertrag geschaffen wurde. Bosnien besteht aus zwei Entitäten: der Föderation von Bosnien-Herzegowina und der Serbischen Republik. Jeder dieser beiden Teile verfügt über ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung; die Föderation ist zudem in zehn Kantone aufgeteilt. Und erst vor wenigen Wochen hat Sulejman Tihic, das bosniakische Mitglied der dreiköpfigen Präsidentschaft Bosniens und der Vorsitzende der SDA, die Abschaffung der Serbischen Republik gefordert, was zu entrüsteten Reaktionen führte.

Mit dem Abkommen von Dayton unzufrieden ist nicht nur die politische Führung der bosnischen MuslimInnen, die sich einen starken Zentralstaat wünscht. Die kroatischen PolitikerInnen arbeiten auf einen eigenen Teilstaat hin. Die serbische Seite verteidigt die Existenzberechtigung der Serbischen Republik. Die «internationale Gemeinschaft» schliesslich hält an den gegenwärtigen Strukturen fest, da zurzeit kein anderer institutioneller Rahmen durchsetzbar scheint.

Der internationale Verwalter, Ashdown, will die politische Führung Bosniens zur Zusammenarbeit mit der «internationalen Gemeinschaft» zwingen und die gewünschte Multi-Ethnizität per Dekret aufbauen. So hat er beispielsweise die Lokalbehörden ultimativ aufgefordert, bis zum 5. Juni die ethnische Teilung in allen Schulen Bosniens aufzuheben. Dem Ultimatum waren monatelange fruchtlose Verhandlungen vorangegangen. Das Daytoner Abkommen sieht die Harmonisierung der Schulsysteme vor. Die serbischen, bosniakischen und kroatischen SchülerInnen sprechen eine sehr ähnliche Sprache, die aber als Serbisch, Bosnisch respektive Kroatisch gilt. Vor allem aber vermitteln die jeweiligen Lehrpläne ein sehr unterschiedliches Bild der Geschichte und der Kultur des Landes und der drei Bevölkerungsgruppen. In der Serbischen Republik ist das Schulsystem zentralisiert; die SchülerInnen lernen die serbische Geschichte. In der Föderation von Bosnien-Herzegowina liegt die Verantwortung für die Bildung bei jedem einzelnen der zehn Kantone. Das führt dazu, dass in den Kantonen, wo die kroatische Bevölkerung die Mehrheit stellt, in der Schule kroatische Geschichte, Sprache und Kultur gelehrt wird. In gewissen Städten mit gemischter Bevölkerung existieren sogar zwei Schulen: eine kroatische und eine bosniakische. Diese befinden sich manchmal im selben Schulhaus.

Im Jahr 2003 hat das zuständige Ministerium begonnen, die Lehrpläne der zwei Teilstaaten und der kantonalen Bildungsministerien zu koordinieren. Im Juli 2003 hat der Gesamtstaat Bosnien ein Rahmengesetz zur Primar- und Sekundarschulbildung verabschiedet. Die Bildungsminister der beiden Teilstaaten und der zehn Kantone der Föderation hatten sechs Monate Zeit, ihre Gesetzgebung mit derjenigen des Gesamtstaates zu harmonisieren. Doch neun Monate später hatten nur der Distrikt Brcko in der Serbischen Republik und fünf - vorwiegend von bosnischen MuslimInnen bewohnte - Kantone der Föderation die lokalen Gesetze angepasst. Ashdown reagierte mit Drohungen, um die kroatischen Kantone dazu zu zwingen, mit dieser schulischen Segregation aufzuhören.

Gestärkte Nationalisten

Doch das autoritäre Vorgehen des Hohen Repräsentanten Ashdown stärkt paradoxerweise die PolitikerInnen der drei nationalistischen Parteien, die seit den Wahlen von 2002 in Bosnien wieder an der Macht sind. Es sind dieselben Parteien, die das Land Anfang der neunziger Jahre in den Krieg geführt haben: die serbische SDS, die bosniakische SDA und die kroatische HDZ. Solange der internationale Verwalter die Macht hat, unverantwortliche Entscheide wieder rückgängig zu machen, können die PolitikerInnen die WählerInnen mit radikalen Parolen umwerben, für die sie nicht die Verantwortung übernehmen müssen. Die BürgerInnen Bosniens haben bis heute die Eigenverantwortung für ihr Land und ihr Schicksal nicht erhalten. Wie soll in Bosnien ein demokratischer Rechtsstaat entstehen, wenn eine externe Behörde, die keiner demokratischen Kontrolle unterworfen ist, an seiner Stelle handelt? Die Gefahr ist gross, dass beim nächsten Urnengang - im Oktober stehen in der Serbischen Republik Lokalwahlen an - die nationalistischen Kräfte weiter gestärkt werden und dass viele BürgerInnen in politische Apathie verfallen.

In diesen Tagen werden erneut tausende bosnische MuslimInnen nach Potocari pilgern, um dort den 7000 Opfern des Massakers von Srebrenica zu gedenken. Kürzlich konnten die sterblichen Überreste von mehreren hundert Opfern dank DNA-Analysen identifiziert werden. Diese werden nun feierlich bestattet. Auch neun Jahre nach dem Massaker werden Karadzic und der Kommandant Ratko Mladic, die Hauptverantwortlichen für das Verbrechen, wahrscheinlich immer noch auf freiem Fuss sein. Die lange Flucht des ehemaligen Präsidenten der Serbischen Republik und seines Armeechefs hindern das Land daran, den Krieg endgültig hinter sich zu lassen. Die Netzwerke innerhalb der Serbischen Republik in Polizei, Verwaltung und Führung der politischen Parteien, die diese lange Flucht überhaupt ermöglicht haben, verhindern die Wiedereingliederung der Serbischen Republik in den bosnischen Gesamtstaat. Doch die Wiederherstellung eines geeinten Bosnien, in dem die Verschiedenheit der drei Bevölkerungsgruppen respektiert wird, ist der Schlüssel für eine Integration Bosniens in Europa. Und sie ist auch die Voraussetzung für die dringend notwendige wirtschaftliche Entwicklung des Landes.