«Das andere Davos»: Konferenz in Zürich: Fleisch. Nicht Gemüse

Über Propaganda, Programm-Outsourcing und Lücken im System. Unordentliche Notizen zum Attac-Kongress in Zürich.

Das wichtigste Merkmal von Globalisierung und Antiglobalisierungskongressen ist Gleichzeitigkeit; das wichtigste Gefühl ist, dass man das Wichtigste verpasst. So auch am Attac-Kongress «Das andere Davos» im Volkshaus Zürich. Immerhin zwei Dutzend RednerInnen, drei bis vier Workshops gleichzeitig, 600 Leute, vier Sprachen, zwei volle Notizblöcke, zwölf Stunden Marathon: mit Themen wie Schuldenkrise, Gatt, politische Morde, Agrobusiness, Neomilitarismus – uff! Deshalb hier in Kürze keine Zusammenfassung, sondern ein paar Notizen und etwas Kritik.

Die Rose von Jericho. (Das ist eine Wüstenpflanze, die Jahrzehnte ohne Wasser auskommt und bei Regen innert Minuten grünt.) Das Erstaunlichste an Antiglobalisierungspodien, auch an diesem in Zürich, ist, dass die Moderatorinnen, Übersetzer, die in Gelb gewandete Crew und das Gros des Publikums alle jung, die ReferentInnen ausnahmslos alt sind. Die Antiglobalisierungsdebatte des «anderen Davos» bedeutet auch ein Revival des Politjargons der siebziger Jahre – und ihrer Köpfe: Ergraute Marxisten, Trotzkistinnen, KPler, Subsistenztheoretikerinnen grünen nach Jahren in der Wüste als RatgeberInnen der Antiglobalisierungsbewegung.

Kaugummi als Medium. Definitiv in der Tradition alter Linker wie französischer Theoretiker ist der Debattierstil: frontal, eitel, monologisch – das Mikrofon wird als grosser, möglichst lang zu bearbeitender Kaugummi betrachtet. Auf den wenigsten Podien werden Dialoge oder Kontroversen geführt – es werden vor allem Vorlesungen gehalten.

Propaganda als Protest. Der Blasenwurf des Kaugummis entspricht in der Rede der Propaganda – also das noch einmal zu erzählen, was alle bereits wissen. Diese Rhetorik kann durchaus Charme haben: beispielsweise bei Tariq Ali: «Das erste Kriegsziel der Amerikaner war die Verhaftung Usama Bin Ladens. Nun ... Wo ist er? Und was Mullah Omar betrifft: Das Letzte, was man von ihm hörte, war, dass er auf einem Motorrad in Richtung Sonnenuntergang floh.» In schlechteren Fällen bilden multinationale Konzerne, Sozialdemokratie, Imperialismus, Neoliberalismus, die Bush-Familie etc. die logische perfekte Verschwörung – zu perfekt, um wahr sein zu können: Mächtige Agenten wie Unvermögen, Zufall, Nebeneffekte, Widersprüche werden einfach von der Landkarte getilgt.

Das Publikum als Sensation. Spannend ist hier vor allem das Publikum – es hört zu. Mit Geduld, Sympathie und Zustimmung. Ungleich sonstigen Publikumsdiskussionen gibt es konstruktive Beiträge und kaum wirre oder destruktive Voten. Befragt, ob die Voten nicht etwas zäh gewesen seien, sind die Antworten eindeutig: «Nein», «waren gut», «schon, aber was solls, wenn sie interessant sind?» In der Tat ist das Diskussionsforum eine Art Volksuni zwecks Aneignung, Vertiefung und Rekapitulierung von Fakten und Ideologie – allerdings ohne die Biestigkeit der Ideologiedebatten früherer Jahrzehnte.

Anything goes. Alles läuft. Es sieht wirklich so aus, als würde hier die Programmatik an die ältere Generation outgesourct. Das «anything goes» der globalisierungskritischen Bewegung ist legendär: Christinnen, Marxisten, Gewerkschafterinnen, Militante gehen weitgehend friedlich miteinander um. Dies bedeutet eine grosse Arbeitserleichterung: Fragt man, womit sich Leute beschäftigen, so ist es die Organisation des nächsten Podiums, des nächsten Treffens, der nächsten Demonstration oder Aktion. Befreit vom Krieg in der Theorie läuft alles auf Praxis hinaus.

Burnout? Die Gefahr der Taktik des enthusiastischen Engagements auf der Basis der Moral liegt darin, dass nach ein, zwei Jahren Aktivismus sich die Welt eventuell nicht geändert hat – und der Aktivismus brennt aus. Dies hat schon ein paar Generationen Linker zu miteinander gut vernetzten Karriere- und/oder KleinbürgerInnen gemacht. Im Fall der Globalisierungskritik wäre es eine weltweite Vernetzung: «Hey John, remember old days in Seattle? Let’s do business together!»

What’s on? What’s possible? What now? Wie die Sache zu machen wäre, zeigte der Workshop mit dem bleichen, jungenhaften Politologen Thomas Sablonski, dem IG-Metall- und Opel-Bochum-Aktivisten Wolfgang Schaumberg und dem «linksten aller GBI-Gewerkschafter», Rolf Krauer. Es war die perfekte Verbindung von Abstraktion, Leidenschaft, Vorschlägen und Frechheit. Sablonski brachte den Theorieteil: wie Outsourcing und Fragmentierung der Arbeitsgänge und Besitzverhältnisse zu mehr Druck und weniger Lohn führen, wie die Pensionskassen der Arbeitenden die Arbeitsbedingungen der Arbeitenden verschlechtern usw.
Rolf Krauer hielt eine ziemlich mitreissende Brandrede, was proletarische Arbeit zu bedeuten habe: Mit 51 ist seine Bilanz als ehemaliger «Tages-Anzeiger»-Drucker: sechs Knieoperationen, der linke Daumen nur noch Dekoration, ein Leberschaden vom Schichtarbeitersaufen. Seine Lösung, Gewerkschaftsführer statt IV-Rentner zu werden, ist auch eine individuelle: 51 Prozent aller 50-jährigen Bauarbeiter sind invalid.

Den cleversten Teil brachte der Opel-Gewerkschafter Schaumburg – weil er der unerwartetste war: Er plädierte trotz allem für «Lean Management», «Just-in-time-Produktion» und «lebenslanges Lernen» – eigentlich Konzepte der Gegenseite. Aber «Lean Management» verflache Hierachien und räume den Arbeitern Zeit für Qualitätsdebatten ein, «Just in time» erlaube den Leuten, sich über die Werksgrenzen zu vernetzen und bringe überdies reizvolle Streikmöglichkeiten (fünf Schichten Stillstand in Bochum legen ein Dutzend Werke in Europa lahm), «Flexibilisierung» und «lebenslanges Lernen» seien auch in Ordnung – wer will schon fünfzig Jahre an der gleichen Stelle am Band stehen. Kurz: Nicht Besitzstandswahrung könne das Ziel sein, sondern das Entdecken neuer Möglichkeiten, der Widersprüche im System.

Subversiv konkret. Wahrscheinlich hat Schaumburg Recht – dies ist die Debatte, die jetzt geführt werden muss. Anklage, Verschwörungsszenarien, Propaganda, Protest sind das Gemüse: Das Fleisch der Freiheit sind die Lücken im System. Nur im Restaurant sollte das vegetarische Menü bestellt werden.